Wende
Neapel. Dann aber, 1987, gelang es Tommaso Starace mit neuen Techniken, zwei schlecht erhaltene Papyri zu öffnen. Er montierte die lesbaren Fragmente dieser Texte – seit dem antiken Vulkanausbruch hatte niemand diese Zeilen zu Gesicht bekommen – auf Japanpapier, mikrophotographierte sie und machte sich daran, den Inhalt zu entziffern. Zwei Jahre später konnte Knut Kleve, ein norwegischer Papyrologe (so nennt man Gelehrte, die sich auf die Entzifferung von Papyri spezialisiert haben), verkünden: »In Herculaneum wurde De rerum natura wiederentdeckt, 235 Jahre, nachdem die Papyri gefunden wurden.« 22
Die Welt zeigte sich ob dieser Meldung unerschüttert, will sagen, die Meldung ging einfach unter. Auch den Wissenschaftlern, die sich mit antiken Kulturen beschäftigten, muss man nachsehen, dass sie der Nachricht, wie sie in Band 19 der dicken italienischen Cronache Ercolanesi vergraben ist, wenig oder keine Aufmerksamkeit schenkten. Denn was Kleve und seine Kollegen gefunden hatten, waren nicht mehr als sechzehn klitzekleine Fragmente – nicht viel mehr als einzelne Wörter oder Teile von Wörtern –, von denen nach näherer Analyse gezeigt werden konnte, dass sie aus den Büchern 1, 3, 4 und 5 des sechs Bücher umfassenden lateinischen Gedichts stammen. Die Fragmente, einsam verlorene Stücke eines enormen Puzzles, waren für sich genommen ohne Bedeutung. Doch weil
man die Funde dem Originaltext zuordnen konnte, liegt nahe, dass De rerum natura in der Bibliothek vollständig vorhanden gewesen sein muss. Und dass gerade dieses Gedicht in der Villa dei Papiri seinen Platz hatte, ist eine aufregende Vorstellung.
Denn die Entdeckung in Herculaneum ermöglicht uns einen Blick auf die gesellschaftlichen Kreise, in denen das von Poggio in einer Klosterbibliothek aufgestöberte Gedicht ursprünglich zirkulierte. In der Klosterbibliothek, unter Missalen, Manualen des Glaubens und theologischen Bänden, war Lukrez’ Werk ein frappierender Fremdkörper, ein Relikt, wie von einem weit entfernt untergegangenen Schiff ans Ufer gespült. In Herculaneum dagegen war es heimisch. Der Inhalt der erhaltenen Rollen zeigt, dass sich die Sammlung in der Villa auf genau die Denkschule konzentrierte, die in De rerum natura den großartigsten Ausdruck gefunden hat, der uns überliefert ist.
Wem die Villa zu Lukrez’ Lebzeiten gehört hat, ist nicht sicher bekannt, der wahrscheinlichste Kandidat ist Lucius Calpurnius Piso. Dieser einflussreiche Politiker, der eine Zeitlang als römischer Statthalter der Provinz Makedonien fungiert hat, unter anderem auch Julius Caesars Schwiegervater war, interessierte sich für griechische Philosophie. Cicero, sein politischer Gegner, porträtierte Piso als Sänger obszöner Liedchen, als »minder feinen Prasser«, der sich »im Weindunst seiner griechischen Freunde« suhle. 23 Nun, da wir den Bestand der Bibliothek besser kennen, können wir getrost davon ausgehen, dass sich die Gäste während der Nachmittage in Herculaneum etwas geistigeren Vergnügungen hingegeben haben.
Von Piso ist bekannt, dass er Philodemus persönlich gekannt hat. In einem Epigramm, das in einem Buch der verkohlten Bibliothek entdeckt wurde, lädt der Philosoph den mutmaßlichen Hausherrn Piso ein, ihn in seinem bescheidenen Heim zu besuchen, um den »Zwanzigsten« zu begehen – die monatliche Feier zu Ehren Epikurs, der am zwanzigsten Tag des griechischen Monats Gamelion geboren wurde:
Morgen, Freund Piso, wird dein Musikgenosse dich um drei Uhr nachmittags in seine bescheidne Bude locken,
Wird dich zu deinem jährlichen Besuch des Zwanzigsten speisen.
Und wenn du Euter missen musst oder Wein des Iakchus, abgefüllt in Chios,
So wirst du doch getreue Kameraden treffen,
Wirst Dinge hören, süßer als im Land der Phaiaken.
Und solltest du, Piso, deinen Blick je auf unsere Weise richten,
So werden wir statt des bescheidenen Zwanzigsten einen reichern feiern. 24
Die Schlussverse werden zu einer Bitte um Geld, drücken vielleicht auch die Hoffnung aus, dass Philodemus seinerseits eingeladen wird zu einem philosophischen Gespräch am Nachmittag in Pisos prachtvoller Villa. Auf ihren Liegen halb zurückgelehnt, im Schatten seidener Markisen und in Spalieren gezogener Weinranken, hatten die privilegierten Männer und Frauen, die Piso zu sich einlud – es ist nicht ausgeschlossen, dass auch einige Frauen an den Gesprächen teilnahmen –, eine Menge Gesprächsstoff. Rom wurde seit Jahren von politischen und sozialen
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