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Wende

Wende

Titel: Wende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Greenblatt
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erkennt und umgekehrt die Kuh ihr Kalb? 11 Wir müssen die Welt um uns herum nur genauer betrachten, und schon begreifen wir, dass viele der intensivsten und schmerzlichsten Erfahrungen unseres Lebens nicht allein unserer Art vorbehalten sind.
Die menschliche Gesellschaft hat nicht mit einem Goldenen Zeitalter der Ruhe und der Fülle begonnen, sondern als urtümlicher Kampf ums Überleben (5:925ff.).
    Es gab keine ursprünglich paradiesischen Zeiten, von denen manche träumen; nicht die Zeit glückseliger Männer und Frauen, die in Geborgenheit und Muße lebten, die Früchte des natürlichen Überflusses genießend. Die frühen Menschen, denen das Feuer fehlte und die die Landwirtschaft nicht kannten, so wenig wie andere Mittel, um eine schonungslos harte Existenz zu mildern, diese Urmenschen kämpften um ihre Nahrung und darum, nicht selbst gefressen zu werden.
    Es mag, im Interesse des Überlebens, immer schon rudimentäre Fähigkeiten gesellschaftlicher Kooperation gegeben haben, doch die Fähigkeit, Bindungen zu schaffen und durch Sitten bestimmt in Gemeinschaften zu leben, hat sich erst langsam entwickelt. Am Anfang gab es nur zufällige Paarung – aus wechselseitigem Begehren oder durch Tausch und Raub – sowie das Jagen und Sammeln von Nahrung. Die Sterblichkeit war groß, aber, wie Lukrez ironisch anmerkt, nicht so hoch wie zu seiner Zeit, wo sie angestiegen sei durch Kriege, Schiffshavarien und Völlerei.
    Auch die Vorstellung, dass die Sprache irgendwie als wundersame Erfindung auf die Menschen gekommen sei, hält Lukrez für absurd. Vielmehr seien die Menschen, die wie andere Tiere in diversen Situationen unartikulierte Schreie und Gesten zur Verständigung nutzten, langsam dazu gekommen, die gleichen Dinge durch gemeinsame Laute zu bezeichnen. So hätten die Menschen auch, lange bevor sie in der Lage waren, gemeinsam melodiöse Lieder zu singen, das Trillern der Vögel, den Laut einer sanften Brise im Schilf nachgeahmt und auf diese Weise die Fähigkeit entwickelt, Musik zu machen (5:1028ff.).

    Die Künste der Zivilisation – den Menschen nicht durch einen göttlichen Gesetzgeber geschenkt, sondern gewissenhaft herausgebildet durch die gemeinsam angewendeten Talente und die Geisteskraft der Spezies – sind lobenswerte Errungenschaften, doch keine ungetrübten Segnungen. Sie entwickelten sich zusammen mit der Furcht vor den Göttern, der Gier nach Reichtum, dem Streben nach Ruhm und Macht. Und dies alles entsprang dem Wunsch nach Sicherheit, einem Begehren, das in die frühesten Erfahrungen des Menschengeschlechts zurückreicht, bis zu den Kämpfen gegen natürliche Feinde. Diese gewaltsamen Auseinandersetzungen – Kämpfe vor allem gegen wilde Tiere, die das menschliche Überleben bedrohten – waren weitgehend erfolgreich, doch die ängstlichen, aggressiven, auf Besitz gerichteten Impulse haben sich vervielfältigt und ausgebreitet. Infolgedessen haben die Menschen Waffen ersonnen, die sich gegen Ihresgleichen richten (5:1105ff.).
Die Seele ist sterblich; sie besteht nämlich aus dem gleichen Stoff wie der menschliche Körper (3:117ff.). Dass wir die Seele nicht in einem bestimmten Organ lokalisieren können, bedeutet nur, dass auch sie aus unendlich kleinen Teilchen besteht, die durch Venen, Fleisch und Sehnen verbunden sind. Unsere Instrumente sind nicht fein genug, um die Seele zu wiegen: Im Augenblick des Todes löst sie sich auf, »verflüchtigt sich wie die Blume des Weins oder die Düfte eines Salböls, die sich in die Lüfte entwinden« (3:221f.). Trotz solcher Bilder gehen wir nicht davon aus, dass Wein oder Parfüm eine geheimnisvolle Seele hätten, sondern meinen nur, dass Düfte aus sehr feinen stofflichen Elementen bestehen, die sich nicht messen lassen. Nicht anders der menschliche Geist: Er besteht aus kleinsten Elementen, die in den tiefsten Tiefen des Körpers verborgen sind. Wenn der Körper stirbt – die Materie sich also auflöst –, stirbt auch die Seele, denn sie ist Teil des Körpers.
Es gibt kein Leben nach dem Tod. Die Menschen haben sich mit Gedanken an das, was sie nach dem Tod erwartet, sowohl getröstet wie gequält. Entweder sammeln sie Blumen in einem Paradiesgarten, wo niemals ein kühles Lüftchen weht, oder sie werden vor einen gestrengen Richter geführt, der sie für ihre Sünden zu nie endendem Leid verdammt (ein Leiden, das, mysteriös genug, voraussetzt, dass wir
auch nach dem Tod eine hitzeempfindliche Haut haben, eine Abneigung gegen Kälte,

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