Wende
Fieber verlassen den Körper nicht rascher, ob du auf gesticktem Brokat dich wälzest oder dich strecken musst auf gewöhnlichem Tuch.« (2:34ff.) Doch so schwer es ist, der Götterfurcht und der Angst vor dem Jenseits zu widerstehen, so schwer ist es, sich der zwingenden Vorstellung zu entziehen, dass wir die Sicherheit unserer selbst und unserer Gemeinschaft irgend vergrößern könnten, wenn wir leidenschaftlich nach Besitz und Eroberung streben. Solche Heldentaten verringern nur die Möglichkeiten des Glücks und setzen alle, die sich daran beteiligen, dem Risiko des Schiffsbruchs aus. Das Ziel, schreibt Lukrez in einer so berühmten wie aufwühlenden Passage, kann nur die Flucht aus solchen verrückten Unternehmungen sein, die man am besten von einer sicheren Warte aus beobachtet:
Wenn Winde die Wasser der weiten See hochpeitschen, wie tröstlich ist es, vom Land aus zuzusehen, wie ein anderer sich plagt und müht: Nicht, als ob es uns freute, andere in Bedrängnis zu sehen, doch es tröstet zu sehen, welche Nöte dir selbst erspart bleiben. Tröstlich auch, ohne eigene Gefahr den mächtigen Zusammenstoß der Krieger auf dem Feld zu verfolgen. Nichts aber ist köstlicher, als die Höhen zu besetzen, die die Lehren der Weisen bereitet und gesichert haben, ruhige Heiligtümer, von denen man herabblicken kann auf andere und sehen, wie sie schweifen und irren, den Pfad des Lebens zu finden, wie sie wetteifern mit ihrem Geist, sich streiten um Ansehen und Ehre, Tag und Nacht sich mühen im unermüdlichen Ringen, sich des Gipfels von Reichtum und Macht zu versichern.
(2:1–13) 13
Nicht Leid ist das größte Hindernis auf dem Weg zur Lust, sondern Täuschung. Die eigentlichen Gegenspieler menschlichen Glücks sind übermäßiges Begehren – die Phantasie, etwas erreichen zu können, das übersteigt, was die endliche, sterbliche Welt hergibt – und nagende
Furcht. Selbst die gefürchtete Pest ist, in Lukrez’ Darstellung – sein großes Gedicht endet mit einer sehr plastischen Schilderung der katastrophalen Epidemie, die Athen heimgesucht hat –, entsetzlich nicht allein wegen des Leidens und Sterbens, die sie bringt, sondern mehr noch wegen der »Unruhe und Panik«, die sie auslöst.
Der Versuch, Leid zu vermeiden, ist vollkommen vernünftig: Dieses Streben ist eine der Säulen von Lukrez’ gesamtem ethischem Gedankengebäude. Aber wie kann man erfolgreich verhindern, dass natürliche Aversion nicht umschlägt in Panik, die dann nur zum Sieg des Leidens führen kann? Allgemeiner gefragt: Warum sind die Menschen so unglücklich?
Das, so denkt Lukrez, hat mit der Macht der Vorstellungskraft zu tun. Die Menschen sind endlich und sterblich, geraten aber in den Griff von Illusionen des Unendlichen, träumen von nie endender Lust, fürchten nie endenden Schmerz. Diese Phantasie unendlichen Leidens lässt uns verstehen, warum Menschen so anfällig sind für Religionen: Im fehlgeleiteten Glauben an die Unsterblichkeit der Seele und insofern an ein möglicherweise ewiges Leiden stellen sie sich vor, sie könnten mit den Göttern über ein besseres Ende verhandeln, über ewige Freuden im Paradies. Aus dieser Vorstellung wiederum wird deutlich, warum sie zur romantischen Liebe neigen: In der fehlgeleiteten Vorstellung, ihr Glück hänge ab vom vollständigen Besitz eines einzelnen Objekts grenzenloser Begierde, werden die Menschen überwältigt von fieberndem, unstillbarem Hunger und Durst, die nur zur Qual werden können und niemals zum Glück führen.
Die Suche nach geschlechtlicher Lust ist nicht unvernünftig, schließlich ist sie eine der natürlichen Freuden des Körpers. Der Fehler, so lehrt Lukrez, liegt darin, diese Freude mit einer Täuschung zu verwechseln, nämlich dem wahnhaften Streben, zu besitzen – gleichzeitig einzudringen und zu verzehren –, was doch nur ein Traum ist. Natürlich ist der oder die abwesende Geliebte nur ein inneres Bild und in dieser Hinsicht einem Traum ähnlich. Doch in Passagen bemerkenswerter Offenheit kommt Lukrez zu der Einsicht, dass Liebende noch im vollzogenen Liebesakt von einem verwirrten Begehren beherrscht werden, das nicht zu erfüllen ist:
Selbst im Akt der Umarmung schwankt die Leidenschaft der Liebenden, wendet sich hierhin und dahin: Sie können sich nicht entscheiden, was zuerst sie mit Händen und Augen genießen sollen. Fest umklammern sie das Objekt ihrer Begierde, verursachen körperlichen Schmerz, schlagen oftmals die Zähne in die Lippen des
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