Wende
körperlichen Hunger und Durst und dergleichen mehr). Sobald man sich aber klarmacht, dass die Seele mit dem Körper stirbt, versteht man auch, dass es postume Strafen oder Belohnungen gar nicht geben kann. Das irdische Leben ist alles, was die Menschen haben (3:713ff.).
Der Tod berührt uns nicht (3:830ff.). Wenn ein Mensch tot ist – wenn sich die Partikel, die miteinander verbunden waren, um uns zu formen und zu erhalten, voneinander gelöst haben –, dann gibt es für ihn weder Lust noch Leid, weder Begehren noch Furcht. Trauernde, sagt Lukrez, ringen stets ihre Hände in Verzweiflung und klagen: »Nimmermehr wird dich dein Heim willkommen heißen, nimmermehr dir dein treffliches Weib und die lieblichen Kinder mit Küssen entgegeneilen und dein Herz mit Wonne füllen.« (3:895ff.) Aber keiner füge bislang hinzu: »Und du selber, du bist jetzt aller Sehnsucht ledig nach dergleichen Freuden.«
Alle organisierten Religionen sind abergläubische Täuschungen, Wahnvorstellungen, die tief in unserem Begehren, in Ängsten und Unwissen wurzeln. Die Menschen projizieren Bilder der Macht und der Schönheit und der vollkommenen Sicherheit, die sie gerne besäßen. Und wenn sie ihre Götter entsprechend bilden, machen sie sich zu Sklaven ihrer eigenen Träume (5:1161ff.).
Jede und jeder ist den Gefühlen unterworfen, die solche Träume hervorbringen: Sie überwältigen uns, wenn wir den Blick zu den Sternen erheben und uns Wesen unermesslicher Macht vorstellen; wenn wir uns fragen, ob denn das Universum Grenzen hat; wenn wir staunen über die vollkommene Ordnung der Dinge; oder, weniger angenehm, wenn uns eine unheimliche Kette von Missgeschicken ereilt und wir uns fragen, ob wir damit bestraft werden; 12 wenn die Natur ihre zerstörerischen Seiten zeigt. Es gibt vollkommen natürliche Erklärungen für Phänomene wie Blitze oder Erdbeben – Lukrez stellt sie dar –, doch die erschreckten Menschen reagieren eher instinktiv, mit religiöser Furcht, und beginnen zu beten.
Religionen sind allesamt grausam. Stets versprechen sie Hoffnung und Liebe, ihr tieferes, alles begründendes Gefüge aber ist Grausamkeit.
Darum fühlen sie sich hingezogen zu Phantasien der Rache und Vergeltung, darum wecken sie unweigerlich Angst unter ihren Anhängern. Das charakteristische Urbild für Religionen – und nichts zeigt deutlicher, welche Perversion ihnen zugrunde liegt – ist das Opfer eines Kindes durch die Eltern.
Fast alle Religionen kennen eine Erzählung eines solchen Opfers, und einige kennen es sogar real. Lukrez dachte dabei an das Opfer der Iphigenie durch ihren Vater Agamemnon, vielleicht kannte er auch die jüdische Erzählung von Abraham und Isaak und vergleichbare Geschichten aus dem Orient, an denen die Römer seiner Zeit immer mehr Geschmack fanden. Er schrieb um 50 v.u.Z., den großen Opfermythos konnte er also nicht antizipieren, der die abendländische Welt künftig beherrschen sollte, doch er hätte ihn wohl kaum überrascht, ebenso wenig die endlos wiederholten, stets prominent zur Schau gestellten Bilder des blutig ermordeten Sohnes.
Es gibt keine Engel, keine Dämonen und Geister. Immaterielle Wesen dieser Art existieren nicht. Die Kreaturen, mit denen Griechen und Römer die Welt bevölkerten – Parzen, Harpyien, Dämonen, Genien, Nymphen, Satyrn, Dryaden, himmlische Boten, die Geister der Toten – sind vollkommen irreal; Lukrez rät, sie einfach zu vergessen.
Das höchste Ziel des menschlichen Lebens ist Steigerung des Genusses und Verringerung des Leidens. Das Leben sollte so organisiert sein, dass es dem Streben nach Glück dient. Es gibt keinen ethischen Zweck, der höher stünde als die Förderung dieses Strebens für das eigene Selbst wie für die Mitgeschöpfe. Alle anderen Forderungen – der Dienst am Staat, das Lob der Götter oder des Herrschers, das eifrige Streben nach Tugend durch Selbstopfer – sind sekundär, fehlgeleitet oder betrügerisch.
Militarismus oder Freude an gewaltsamen Sportarten, die seine Kultur prägten, erschienen Lukrez als zutiefst pervers und widernatürlich. Die natürlichen Bedürfnisse des Menschen sind einfach. Wenn sie versäumen, die Grenzen dieser Bedürfnisse zu erkennen, führt dies die Menschen in einen vergeblichen und nutzlosen Kampf um immer mehr.
Mit ihrem Verstand erfassen die meisten Menschen, dass die Luxusdinge, nach denen sie sich sehnen, größtenteils sinnlos sind, wenig oder gar nichts zu ihrem Wohlbefinden beitragen: »Auch die hitzigen
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