Wende
anderen und pressen Mund auf Mund. Sie leitet nicht reiner Genusstrieb, sondern ein heimlicher Stachel ...
(4:1076ff.)
Mit dieser Passage – W. B. Yeats nannte sie die »schönste Beschreibung der geschlechtlichen Liebe, die je geschrieben wurde« 14 – will Lukrez nicht zu einer schicklicheren, laueren Form des Liebemachens raten, sondern auf das ungestillte Verlangen hinweisen, das noch in der Erfüllung der Begierde nicht nachlässt. 15 Die Unstillbarkeit des sexuellen Verlangens ist, nach Lukrez’ Ansicht, eine der durchtriebenen Strategien der Liebesgöttin Venus; und wir verstehen daraus, warum nach kurzen Pausen der gleiche Liebesakt wieder und wieder vollzogen wird. Lukrez will nicht bestreiten, dass die wiederholten Umarmungen zutiefst befriedigend sind, ihn beunruhigt diese List jedoch, das Aufpeitschen aggressiver Impulse, das ungute Gefühl, das auf den Akt folgt, und vor allem das Gefühl, dass noch der Augenblick der Ekstase etwas zu begehren übrig lässt. 1685 hat der große Dichter John Dryden Lukrez’ bemerkenswerte Vision brillant erfasst:
... when the youthful pair more closely join,
When hands in hands they lock, and thighs in thighs they twine;
Just in the raging foam of full desire,
When both press on, both murmur, both expire,
They grip, they squeeze, their humid tongues they dart,
As each would force their way to th’ others heart.
In vain; they only cruise about the coast.
For bodies cannot pierce, nor be in bodies lost,
As sure they strive to be, when both engage
In that tumultuous momentary rage.
So tangled in the nets of love they lie,
Till man dissolves in that excess of joy.
(4:1105–1114) 16
Das Verstehen der Dinge und ihrer Natur weckt großes Staunen. Die Erkenntnis, dass das Universum aus kleinsten Partikeln und Leere besteht und aus nichts anderem, dass die Welt nicht von einem sorgenden Schöpfer für uns geschaffen wurde, dass wir nicht der Mittelpunkt des Universums sind, dass unser Gefühlsleben nicht unterschieden ist von unserem körperlichen Leben, unsere Seelen ebenso stofflich und sterblich sind wie unsere Leiber – all diese Erkenntnis ist kein Grund zu verzweifeln. Im Gegenteil, wer die Dinge erkennt, wie sie wirklich sind, hat bereits einen entscheidenden Schritt hin zur Möglichkeit des Glücks getan. Die Unscheinbarkeit der Menschen – die Tatsache, dass sich nicht alles um uns und unser Schicksal dreht – ist, darauf besteht Lukrez, eine gute Nachricht.
Es ist den Menschen durchaus möglich, ein glückliches Leben zu führen – aber nicht weil sie denken, sie seien der Mittelpunkt des Universums, nicht weil sie die Götter fürchten oder sich selbst edelmütig aufopfern für Werte, die ihre endliche Existenz angeblich übersteigen. Unstillbares Begehren und die Angst vor dem Tod sind die Haupthindernisse für menschliches Glück, doch durch Gebrauch der Vernunft lassen sie sich ausräumen.
Und der ist nicht nur Spezialisten möglich, jeder und jede ist dazu in der Lage. Notwendig ist allein, die Lügen zurückzuweisen, die uns Priester und Märchenerzähler auftischen, und stattdessen offen und ruhig auf die wahre Natur der Dinge zu schauen. Alles Denken – Wissenschaft, Moral, alle Versuche, ein lebenswertes Leben zu entwerfen – muss mit der Vorstellung der unsichtbaren »Keime der Dinge« beginnen und enden: mit den Atomen, der Leere und mit nichts anderem.
Es mag im ersten Moment so scheinen, als führe diese Vorstellung unweigerlich zu einem Gefühl kalter Leere, als werde das Universum jedes Zaubers entkleidet. Doch die Befreiung von schädlichen Täuschungen ist nicht das Gleiche wie Desillusionierung. Der Ursprung des Philosophierens, so wurde in der Antike oft gesagt, ist das Staunen: Überraschung und Verwirrung führen zum Wunsch nach Wissen, und Wissen wiederum beruhigt die Verwunderung. Nach Lukrez aber verläuft der Prozess eher
umgekehrt: Das Wissen, wie die Dinge wirklich sind, weckt das tiefste Staunen.
De rerum natura ist dergestalt etwas äußerst Seltenes: ein großes Werk der Philosophie und zugleich ein großartiges Gedicht. Stellt man, wie zuvor in diesem Kapitel, eine Liste von Behauptungen zusammen, gerät Lukrez’ erstaunliche poetische Kraft unvermeidlich in den Hintergrund; eine Kraft, die er selbst heruntergespielt hat, als er seine Verse mit dem Honig verglich, den man auf den Rand einer Tasse mit bitterer Medizin schmiert, weil das kranke Kind sie sonst vielleicht nicht trinken würde. Dieses
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