Wende
Herunterspielen ist im Grunde nicht unverständlich: Epikur, sein philosophischer Meister und Führer, misstraute der Redegewandtheit, die Wahrheit, dachte er, müsse in nüchterner, schmuckloser Prosa präsentiert werden.
Doch die großartige Poesie des Lukrez’schen Werkes ist seinem visionären Vorhaben nicht äußerlich, seinem Versuch, den Lügenerzählern die Wahrheit zu entreißen. Warum, so fragte er, sollen die Geschichtenerzähler das Monopol auf die Mittel behalten, die Menschen ersonnen haben, um die Schönheit und das Vergnügen an der Welt auszudrücken? Ohne diese Mittel sähe die Welt leicht unwirtlich aus, und die Menschen würden, im Interesse ihres Wohlbefindens, Zuflucht zu Phantasien nehmen, selbst wenn diese zerstörerisch sind. Mit Hilfe der Poesie jedoch kann in seiner wirklichen Pracht dargestellt werden, was die Dinge wirklich sind – eine unendliche Zahl unzerstörbarer Partikel, die mit zufälligem Ruck und kleiner Abweichung aufeinanderstürzen, sich verhaken, zum Leben gelangen, sich wieder trennen, sich reproduzieren, sterben, sich wiedererschaffen und auf diese Weise ein staunenswertes, ein unaufhörlich sich wandelndes Universum schaffen.
Menschliche Wesen, so Lukrez’ Überlegung, müssen die giftige Vorstellung nicht schlucken, nach der ihre Seelen nur flüchtige Gäste in dieser Welt seien und eigentlich anderswohin strebten. Dieser Glaube würde sie in ein destruktives Verhältnis zu der Umgebung setzen, in der sie ihr Leben leben, und sie haben kein anderes. Ihr Leben ist, wie alle anderen im Universum existierenden Formen, kontingent und verletzlich; alle Dinge, auch die Erde selbst, werden sich irgendwann in die unsichtbaren Partikel auflösen, aus denen alles Seiende aufgebaut ist, aus denen sich dann im nie endenden Tanz der Materie wieder andere Dinge bilden
können. Solange wir aber leben, sollte uns das mit tiefer Lust erfüllen, sind wir doch ein kleiner Teil des weltschaffenden Prozesses, den Lukrez als zutiefst erotisch feiert.
So kommt es, dass Lukrez, als Dichter und Schöpfer von Metaphern, etwas Seltsames tun konnte. Im Grunde scheint es seiner Überzeugung, dass die Götter taub sind für menschliche Bitten, zuwiderzulaufen. Doch De rerum natura beginnt mit einem Gebet an Venus. Hören wir nochmals Dryden, der Lukrez’ Glut wohl am besten ins Englische übertragen hat:
Delight of humankind and gods above,
Parent of Rome, propitious Queen of Love,
Whose vital power, air, earth, and sea supplies,
And breeds whate’er is born beneath the rolling skies;
For every kind, by thy prolific might,
Springs and beholds the regions of the light:
Thee, Goddess, thee, the clouds and tempests fear,
And at thy pleasing presence disappear;
For thee the land in fragrant flowers is dressed,
For thee the ocean smiles and smooths her wavy breast,
And heaven itself with more serene and purer light is blessed.
(1:1–9)
So fließt der Hymnus fort, voller Staunen und Dankbarkeit, glänzend im Licht. So als schaute der ekstatische Dichter die Göttin der Liebe, sähe den Himmel sich klären in ihrer strahlenden Gegenwart, die erwachende Erde sich füllen mit Blüten. Sie ist die Verkörperung des Begehrens, und ihre Wiederkehr in den frischen Böen des westlichen Windes erfüllt alle lebenden Wesen mit Lust und sexuellem Begehren:
For when the rising spring adorns the mead,
And a new scene of nature stands displayed,
When teeming buds and cheerful greens appear,
And western gales unlock the lazy year,
The joyous birds thy welcome first express
Whose native songs thy genial ire confess.
Then savage beasts bound o’er their slighted food,
Struck with thy darts, and tempt the raging flood.
All nature is thy gift: earth, air, and sea;
Of all that breathes, the various progeny,
Stung with delight, is goaded on by thee.
O’er barren mountains, o’er the flowery plain,
The leafy forest, and the liquid main
Extends thy uncontrolled and boundless reign.
Through all the living regions dost thou move
And scatterest, where thou goest, the kindly seeds of Love.
(1:9–20) 17
Wir wissen nicht, wie die deutschen Mönche, als sie die lateinischen Verse kopiert und vor dem Zerfall bewahrt haben, auf diese reagierten; wissen nicht, was Poggio Bracciolini, der zumindest einen Blick auf diese Verse geworfen hat, die er vor dem Vergessen bewahrte, von ihrer Bedeutung erfasst hat. So ziemlich jedes der Schlüsselprinzipien des Gedichts war einem rechtgläubigen Christen, der kirchlichen
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