Wende
undurchdringliche Barriere der Zeit zu überwinden. Nach ihren Formaten Oblongus und Quadratus genannt, wurden diese Manuskripte in der Sammlung von Isaac Voss, einem holländischen Gelehrten und Sammler des 17. Jahrhunderts, katalogisiert und befinden sich seit
1689 in der Bibliothek der Universität Leiden. Außerdem haben sich Fragmente einer weiteren Handschrift aus dem neunten Jahrhundert erhalten, die etwa 45 Prozent des Lukrez-Gedichts umfassen und heute in Sammlungen in Kopenhagen und Wien aufbewahrt werden. Doch als diese Manuskripte auftauchten, hatte Lukrez’ Gedicht dank Poggios Entdeckung schon seit längerer Zeit dazu beigetragen, die Welt zu beunruhigen und zu verändern.
Es ist gut möglich, dass Poggio seine Kopie des Gedichts an Niccoli schickte, ohne zuvor viel mehr als einen kurzen Blick darauf zu werfen. Er hatte damals den Kopf nicht frei genug. Sein Dienstherr Baldassare Cossa hatte, wie wir wissen, die Papstwürde verloren und schmachtete im Gefängnis. Der zweite Prätendent auf den Stuhl des heiligen Petrus, Angelo Correr, der gezwungen worden war, seinen Titel als Gregor XII. abzugeben, starb im Oktober 1417. Und der dritte, Pedro de Luna, verbarrikadierte sich zunächst in der Festung von Perpignan und später auf dem unzugänglichen Felsen von Peniscola an der spanischen Küste bei Valencia; er nannte sich immer noch Benedikt XIII., aber so wie wohl den meisten seiner Zeitgenossen war auch Poggio klar, dass Papa Lunas Anspruch kaum ernst zu nehmen war. So war der Heilige Stuhl vakant, und das Konzil – wie das aktuelle Europa zerrissen von den Spannungen zwischen Engländern, Franzosen, Deutschen, Italienern und Spaniern und ihren Delegationen – stritt über die Bedingungen, die erfüllt sein müssten, bevor ein neuer Papst gewählt werden könne.
In der langen Zeit, die verstrich, bis eine Einigung erreicht war, hatten viele Mitglieder der Kurie Wege zu neuer Beschäftigung gefunden; einige, wie Poggios Freund Bruni, waren nach Italien zurückgekehrt. Poggios eigene Versuche blieben ohne Erfolg. Der apostolische Sekretär eines aus dem Amt vertriebenen Papstes hatte Feinde, und er weigerte sich, sie dadurch zu besänftigen, dass er sich von seinem früheren Dienstherrn distanzierte. Andere Beamte des päpstlichen Hofes sagten gegen den inhaftierten Cossa aus; Poggios Name dagegen taucht in den Zeugenlisten der Anklage nicht auf. Poggio konnte eigentlich nur hoffen, dass Kardinal Zabarella, einer von Cossas wichtigsten Verbündeten, zum Papst gemacht würde, doch der Kardinal starb 1417. Als schließlich im Herbst 1418 das geheime Konklave zusammentrat, wählten die Kardinäle einen, der kein Interesse
daran hatte, sich mit humanistischen Gelehrten zu umgeben, den römischen Aristokraten Oddo Colonna, der als Martin V den Heiligen Stuhl bestieg. Den Posten des apostolischen Sekretärs bekam Poggio nicht angeboten, hätte aber im niederen Rang eines Skriptors in der Kurie bleiben können. Doch er lehnte ab, entschloss sich stattdessen zu einem überraschenden und riskanten Karriereschritt.
1419 nahm Poggio den Posten eines Sekretärs bei Henry Beaufort an, dem Bischof von Winchester. Beaufort, der Onkel Heinrichs V (Shakespeares heroischer Feldherr, der Sieger von Azincourt), leitete die englische Delegation auf dem Konstanzer Konzil, wo er den italienischen Humanisten getroffen haben muss, der ihn wohl beeindruckt hat. Für den reichen und mächtigen englischen Bischof repräsentierte Poggio den fortgeschrittensten und hochgebildeten Typus eines Sekretärs, der sich in der römischen Kurienbürokratie ebenso auskannte wie in den renommierten humanistischen Studien. Dem italienischen Sekretär wiederum war Beaufort Rettung seiner Würde. Poggio empfand es als Genugtuung, dass er die Rückkehr an die römische Kurie, die einer Degradierung gleichgekommen wäre, ablehnen konnte. Aber er sprach kein Englisch, und selbst wenn das für den Dienst bei einem aristokratischen Kleriker, dessen Muttersprache Französisch war und der fließend Latein und Italienisch sprach, keine große Rolle spielte, so bedeutete es doch, dass Poggio nicht hoffen konnte, sich in England je wirklich heimisch zu fühlen.
So übersiedelte er, kurz bevor er sein vierzigstes Jahr erreichte, in ein Land, in dem er weder Familie noch Freunde oder sonst Rückhalt hatte. Seine Entscheidung wird noch andere Gründe gehabt haben, nicht nur den Groll über seine Behandlung. Die Aussicht auf einen Aufenthalt in einem
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