Wende
Orthodoxie ein Gräuel. Die Dichtung aber war bezwingend, von verführerischer Schönheit. Und in halluzinatorischer Lebendigkeit können wir betrachten, was zumindest ein Italiener, später im 15. Jahrhundert, aus ihr gemacht hat: Wir müssen nur einen Blick auf Botticellis großartiges Gemälde der Venus werfen, wie sie, hinreißend schön, der rastlosen Materie des Meeres entsteigt.
KAPITEL NEUN
DIE RÜCKKEHR
L ukrez ist noch nicht wieder zu mir zurückgekommen«, schrieb Poggio an Francesco Barbaro, seinen venezianischen Freund und adligen Humanisten, »obwohl er kopiert wurde.« Offenbar war es Poggio nicht erlaubt worden, die uralte Handschrift auszuleihen (auch von ihr spricht er, als sei sie der Dichter selbst) und mit nach Konstanz zu nehmen. Die Mönche waren wohl zu misstrauisch, und er hat wohl jemanden finden müssen, der eine Kopie anfertigte. Er erwartete nicht, dass dieser Schreiber das Ergebnis, so bedeutsam es war, persönlich ablieferte: »Der Ort ist ziemlich weit weg, und nicht viele Leute kommen von dort«, heißt es weiter im Brief, »und so habe ich zu warten, bis irgendwer hier auftaucht und ihn bringt.« Und wie lange war er bereit zu warten? »Wenn niemand auftaucht«, versicherte er dem Freund, »werde ich keine öffentlichen Pflichten vor private Bedürfnisse setzen.« 1 Eine etwas rätselhafte Bemerkung, denn was bedeutet da öffentlich, was privat? Poggio wollte Barbaro vielleicht nur sagen, er solle sich keine Sorgen machen: Offizielle Pflichten in Konstanz (worin immer sie bestanden haben könnten) würden nicht verhindern, dass Lukrez in seine Hand gelangte.
Als die Abschrift schließlich bei ihm eintraf, schickte Poggio De rerum natura sofort an Niccolö Niccoli nach Florenz. Entweder weil die Kopie des Schreibers sehr grob verfertigt war oder weil er schlicht ein Exemplar für sich selbst haben wollte, nahm es Poggios Freund auf sich, das Gedicht ein weiteres Mal abzuschreiben. Die Transkription in Niccolis eleganter Handschrift sowie die Kopie des deutschen Schreibers brachten Dutzende weiterer Abschriften hervor – über fünfzig Kopien haben sich erhalten –, und diese wurden schließlich zu den Quellen aller gedruckten Lukrez-Ausgaben des 15. und frühen 16. Jahrhunderts. 2 So diente Poggios Entdeckung
als Verbindungskanal, durch den das antike Gedicht, nach eintausendjährigem Schlaf, wieder in der Welt verbreitet wurde. In der kühlen, in Grau und Weiß gehaltenen Biblioteca Medicea Laurenziana, die Michelangelo für die Medici entworfen hat, wird Niccolis Kopie der Abschrift aufbewahrt, die der deutsche Schreiber angefertigt hat: nach einer Kopie des Gedichts aus dem neunten Jahrhundert – Codex Laurentianus 35.30. Das Buch, eine der Hauptquellen der Neuzeit, präsentiert sich als bescheidener Band, gebunden in das inzwischen verblasste, ramponierte rote Leder mit Metalleinlagen, das die Medici für ihre Handschriften ausgewählt hatten; am unteren Rand des hinteren Buchdeckels ist die Kette befestigt, mit der die Handschriften an den Lesepulten festgemacht waren. Es gibt nur wenige Merkmale, nach denen sich diese Kopie von anderen Manuskripten der Sammlung unterscheiden ließe. Der heutige Leser erhält ein Paar Latexhandschuhe, die er tragen muss, wenn ihm das Buch an den Tisch gebracht wird.
Die Kopie des deutschen Schreibers, die Poggio von Konstanz nach Florenz geschickt hatte, ist verloren. Vermutlich hat sie Niccoli, nachdem er seine Abschrift fertiggestellt hatte, an Poggio zurückgesandt; eine Kopie des Textes in seiner exzellenten Handschrift gibt es nicht. Vielleicht haben Poggio oder dessen Erben auf Niccolis Fertigkeiten vertraut, die Kopie des Schreibers nicht für bewahrenswert gehalten, sie möglicherweise weggeworfen. Verloren ist auch die Handschrift, nach der der Schreiber kopiert hat; vermutlich verblieb sie in der Klosterbibliothek. Wurde sie durch ein Feuer vernichtet? Hat man die Tinte sorgfältig vom Pergament geschabt, um Platz zu machen für einen anderen Text? Wurde der Band derart vernachlässigt, dass er schließlich zerfiel? Oder hat ein frommer Leser irgendwann die subversiven Inhalte dieser Handschrift erkannt und beschlossen, sie zu vernichten? Jedenfalls sind keinerlei Hinweise auf diese Abschrift aufgetaucht. Zwei Handschriften, die ebenfalls im neunten Jahrhundert nach De rerum natura entstanden sind, von denen Poggio und seine humanistischen Zeitgenossen aber keine Kenntnis hatten, haben es geschafft, die nahezu
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