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Wende

Wende

Titel: Wende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Greenblatt
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weit entfernten Reich – England war damals abgelegener und exotischer, als einem heutigen Römer Tasmanien erschiene – reizte den Bücherjäger in Poggio. Ihm waren in der Schweiz und in Deutschland spektakuläre Funde gelungen, die ihm in Kreisen der Humanisten einen Namen verschafft hatten. Warum sollten in Bibliotheken englischer Klöster nicht weitere Entdeckungen auf ihn warten? Jedenfalls waren sie bislang nicht von Humanisten durchforstet worden, die über so gründliche Leseerfahrungen mit klassischen Texten verfügten wie er, der es mit enzyklopädischen Kenntnissen und bemerkenswertem philologischem Scharfsinn
verstand, Hinweise auf fehlende Texte zu erkennen und zu deuten. Wegen seiner Fähigkeiten zur Wiedererweckung toter Autoren hatte man ihn bereits zum Halbgott erhoben, wie aber würde man ihn in Humanistenkreisen erst für das loben, was er nun ans Tageslicht würde fördern können?
    Fast vier Jahre blieb Poggio schließlich in England, doch diese Zeit erwies sich als zutiefst enttäuschend. Bischof Beaufort war nicht die Goldmine, von der Poggio, stets in Geldnöten, geträumt hatte; der Mann war zwar reich, aber notorisch geizig. Zudem war er die meiste Zeit auf Reisen  – »nomadisch wie ein Skythe« – und ließ seinen Sekretär ohne wirkliche Beschäftigung zurück. Mit Ausnahme Niccolis schienen ihn seine italienischen Freunde vergessen zu haben: »Ich wurde in die Vergessenheit verbannt, so als sei ich bereits tot.« Die Engländer, die er kennen lernte, schienen ihm fast ausnahmslos unmöglich: »Viele der Männer der Völlerei und Lust ergeben, sehr wenige Liebhaber der Literatur und diese wenigen Barbaren eher in nichtigen Debatten und Wortklaubereien geschult als in wirklichem Studium.« 3
    Seine Briefe in die Heimat sind wahre Klagelieder. Da wütete die Pest, war das Wetter elend, Mutter und Bruder schrieben nur, um ihn um Geld anzugehen, das er nicht hatte; und zu alledem litt er an Hämorrhoiden. Die fürchterlichste Erfahrung aber waren die Bibliotheken; zumindest die, die Poggio besuchte, waren aus seiner Sicht völlig uninteressant. An Niccoli in Florenz schreibt er:
    Ich sah viele Klöster, alle voller neuer Doktoren, und bei keinem hättest du es der Mühe wert gefunden, ihm auch nur zuzuhören. Es gab nur wenige Bände antiker Schriften, und die haben wir in besseren Fassungen zuhause. Nahezu alle Klöster der Insel sind während der letzten vierhundert Jahre gebaut worden, und das war nun keine Zeit, gelehrte Männer oder Bücher hervorzubringen, wie wir sie suchen; diese Bücher sind, ohne Spuren zu hinterlassen, untergegangen. 4
    Es könnte, räumt Poggio ein, dies oder jenes in Oxford zu finden sein, doch dahin plante sein Dienstherr nun gerade keine Reise, und seine eigenen Mittel waren, wie immer, äußerst beschränkt. Es war Zeit, dass seine
humanistischen Freunde ihre Träume von stupenden Entdeckungen begruben: »Du gibst die Hoffnung auf Bücher aus England besser auf, denn sie machen sich hier sehr wenig daraus.« 5
    Poggio fand, wie er schrieb, einigen Trost im Studium patristischer Texte, mit dem er begonnen hatte – an theologischen Büchern herrschte in England kein Mangel –, doch schmerzlich spürte und klagte er, wie sehr ihm die geliebten klassischen Texte fehlten:
    Während meiner vier Jahre hier habe ich keine Aufmerksamkeit auf humanistische Studien verwendet und nicht ein einziges Buch gelesen, das irgend mit Stil zu tun gehabt hätte. Du kannst das an meinen Briefen sehen, denn sie sind nicht mehr das, was sie zu sein pflegten. 6
    1422, nach endlosem Lamentieren, Intrigieren und Schmeicheln, konnte er sich schließlich einen neuen Sekretärsposten im Vatikan sichern. Damit allerdings stellte sich das Problem, genügend Geld für die Rückreise zusammenzubekommen  – »Ich jage überall herum, um Mittel aufzutreiben, dieses Land hier auf Kosten anderer zu verlassen« 7 –, doch schließlich brachte er das Erforderliche zusammen. Ohne eine einzige bibliographische Kostbarkeit entdeckt zu haben, kehrte er nach Italien zurück; und auch im geistigen Leben Englands hat er keinen spürbaren Eindruck hinterlassen.
    Am 14. Mai 1425 erinnerte er Niccoli in einem Brief, dass er den Text sehen wollte, den er diesem acht Jahre zuvor gesandt hatte: »Ich wollte den Lukrez für zwei Wochen und nicht länger, doch du wolltest diesen und dazu Silius Italicus, Nonius Marcellus und Ciceros Orationes in einem Zug kopieren. Doch du redest von allem und

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