Wendekreis des Krebses
glücklich unter einem fremden Himmel. Es war nicht natürlich. Wenn er Frankreich sagte, bedeutete das Wein, Frauen, Geld in der Tasche, ein leichtes Leben. Es bedeutete, über die Stränge zu schlagen, Ferien zu machen. Und dann, als er seinen Hieb bekommen hatte, als die Zeltdecke hochflog und er den Himmel genau betrachtete, sah er, daß es nicht nur ein Zirkus war, sondern eine Kampfarena, genauso wie überall. Und eine, in der es verdammt hart zuging. Ich dachte oft, wenn ich ihn von dem glorreichen Frankreich schwärmen hörte, von der Freiheit und all dem Schmarrn, wie das für einen französischen Arbeiter geklungen hätte, wenn er Fillmores Worte hätte verstehen können. Kein Wunder, daß sie uns alle für verrückt halten. Für sie sind wir verrückt. Wir sind nichts als ein Haufen Kinder. Senile Idioten. Was wir Leben nennen, ist eine Einheitspreisladen-Romanze. Was ist es eigentlich, diese Begeisterung, die allem zugrunde liegt? Dieser billige Optimismus, der jedem gewöhnlichen Europäer den Magen umdreht? Er ist eine Illusion. Nein, Illusion ist ein zu gutes Wort dafür. Illusion bedeutet etwas. Nein, er ist nur ein Wahn . Ein reiner Wahn. Wir sind wie eine Herde wilder Pferde mit Scheuklappen vor den Augen. Wir toben uns aus. Sind auf wilder Flucht. Über den Abgrund. Hopp! Alles, was der Gewalt und der Verwirrung dient. Weiter! Immer weiter! Gleichviel wohin. Und immer mit schäumendem Mund. Halleluja schreiend. Halleluja! Warum? Das weiß Gott allein. Es steckt im Blut. Es ist das Klima. Es ist ein Haufen Dinge. Es ist auch das Ende. Wir ziehen uns die ganze Welt über die Ohren. Wir wissen nicht, warum. Es ist unser Schicksal. Das übrige ist reine Scheiße …
Beim Palais-Royal schlug ich vor, haltzumachen und ein Glas zu trinken. Er zögerte einen Augenblick. Ich sah, daß er sich wegen Ginette beunruhigte, wegen des Essens, wegen des Krachs, den er haben würde.
«Mein Gott», sagte ich, «vergiß sie ein Weilchen. Ich bestelle was zum Trinken und möchte, daß du es trinkst. Mach dir keine Sorgen, ich befreie dich aus dieser beschissenen Lage.» Ich bestellte zwei doppelte Whiskys.
Als er die Whiskys kommen sah, lächelte er mich wieder ganz wie ein Kind an.
« Hinunter damit!» sagte ich. «Und bestellen wir noch einen. Das wird dir gut tun. Ich pfeif drauf, was der Arzt sagt, diesmal ist es recht so. Los, hinunter damit!»
Er goß es hinunter, und während der garçon eine neue Runde holte, sah er mich mit verschwommenen Augen an, so als wäre ich der letzte Freund auf der Welt. Auch zuckten seine Lippen ein wenig. Er wollte mir etwas sagen und wußte nicht recht, wie er beginnen sollte. Ich betrachtete ihn unbefangen, als merkte ich den flehentlichen Ausdruck nicht, und indem ich die Untersetzer beiseiteschob, beugte ich mich auf meinen Ellbogen gestützt vor und sagte ernst zu ihm: «Paß auf, Fillmore, was tätest du wirklich gerne? Sag es mir!»
Darüber traten ihm die Tränen in die Augen, und er stieß hervor: «Ich möchte gerne daheim bei meinen Leuten sein. Ich möchte gerne englisch sprechen hören.» Die Tränen flossen ihm übers Gesicht. Er gab sich nicht die Mühe, sie wegzuwischen. Er gab sich einfach rückhaltlos seinem Jammer hin. Mein Gott, dachte ich bei mir, eine solche Erleichterung tut gut. Es tut gut, wenigstens einmal im Leben ein richtiger Feigling zu sein. Einmal alles gehen zu lassen. Gut so! Gut so! Es war mir eine solche Erleichterung, ihn so zusammenbrechen zu sehen, daß ich fühlte, ich könnte jedes Problem lösen. Ich fühlte mich mutig und entschlossen. Mir schwirrten tausend Ideen zugleich im Kopf.
«Hör mal zu», sagte ich und beugte mich noch näher zu ihm hinüber, «wenn es dir ernst ist mit dem, was du sagst, warum tust du es nicht … warum gehst du nicht? Weißt du, was ich an deiner Stelle täte? Ich ginge heute. Ja, weiß Gott, es ist mir ernst … Ich ginge auf der Stelle, ohne ihr auch nur Lebewohl zu sagen. Tatsächlich ist das der einzige Weg, den du einschlagen kannst – sie würde dich nie gehen lassen. Das weißt du.»
Der garçon kam mit den Whiskys. Ich sah, wie Fillmore mit verzweifelter Gier zugriff und das Glas an die Lippen hob. Ich sah, wenn auch weit weg, einen wild verzweifelten Hoffnungsschimmer in seinen Augen. Im Geiste sah er sich vermutlich über den Atlantik schwimmen. Mich dünkte es leicht, eine so einfache Sache wie einen Baumstamm wegzurollen. Das Ganze nahm in meinem Geist rasch Gestalt an. Ich wußte genau
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