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Wendekreis des Krebses

Wendekreis des Krebses

Titel: Wendekreis des Krebses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Miller
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wir noch ungefähr zwölf Minuten Zeit. Ich wagte nicht, ihm schon Lebewohl zu sagen. Durchgedreht wie er war, konnte es passieren, daß ich ihn im letzten Augenblick aus dem Zug springen und zu ihr nach Hause eilen sah. Alles konnte seinen Entschluß umwerfen. Schon ein Strohhalm. Ich schleppte ihn deshalb in eine Bar und sagte: «Wir genehmigen uns jetzt einen Pernod, deinen letzten Pernod, und ich zahle ihn … mit deinem Kies.»
    Etwas an dieser Bemerkung ließ ihn mich unsicher ansehen. Er nahm einen kräftigen Schluck von dem Pernod und dann, mir zugewandt wie ein getretener Hund, sagte er: «Ich weiß, ich sollte dir Geld nicht anvertrauen, aber … aber … Nun schön, tu, was du für das Beste hältst. Ich will nicht, daß sie sich umbringt, das ist alles.»
    « Sich umbringen? » sagte ich. «Die nicht! Du mußt hübsch eingebildet sein, wenn du so was glauben kannst. Was das Geld betrifft, so verspreche ich dir, wenn ich es auch ungern tue, doch sofort aufs Postamt zu gehen und es ihr telegrafisch zu überweisen. Ich würde mir selber keinen Augenblick länger als nötig trauen.» Während ich das sagte, fiel mein Blick auf eine Anzahl Ansichtspostkarten in einem Drehgestell. Ich wählte eine aus – es war ein Bild vom Eiffelturm – und veranlaßte ihn, ihr ein paar Worte zu schreiben. «Teile ihr mit, daß du dich jetzt einschiffst. Sag ihr, daß du sie liebst und ihr Nachricht gibst, sobald du ankommst. Ich sende es ihr mit der Rohrpost, wenn ich aufs Postamt gehe. Und heute abend suche ich sie auf. Alles kommt ins Lot, du wirst schon sehen.»
    Damit gingen wir über die Straße zurück zum Bahnhof. Nur noch zwei Minuten. Ich fühlte, daß jetzt alle Gefahr vorbei war. Am Durchlaß klopfte ich ihm auf den Rücken und deutete auf den Zug. Ich schüttelte ihm nicht die Hand – er wäre mir schluchzend in die Arme gesunken. Ich sagte nur: «Beeil dich. Er fährt in einer Minute ab.» Und damit machte ich auf dem Absatz kehrt und ging davon. Ich blickte nicht einmal zurück, um zu sehen, ob er in den Zug stieg. Auch ich hatte Angst.
    Die ganze Zeit, während ich ihn in Trab setzte, hatte ich mir nicht wirklich überlegt, was ich tun würde, wenn ich ihn erst einmal los war. Ich hatte eine Menge Dinge versprochen – aber das war nur geschehen, um ihn zu beruhigen. Was meinen Besuch bei Ginette anbetraf, so hatte ich ungefähr ebensowenig Mut, ihr gegenüberzutreten, wie er. Auch mir graute davor. Alles war so rasch gegangen, daß es unmöglich war, die Situation ganz zu übersehen. Ich ging in einer Art angenehmer Betäubung, die Postkarte in der Hand, vom Bahnhof weg. Ich lehnte mich an einen Laternenpfahl und las sie durch. Sie klang lächerlich. Ich las sie noch einmal, um mich zu überzeugen, daß ich nicht träumte, dann zerriß ich sie und warf sie in den Rinnstein.
    Ich blickte mich unsicher um, halbwegs darauf gefaßt, Ginette mit einem Tomahawk hinter mir herlaufen zu sehen. Niemand verfolgte mich. Ich ging gemächlich der Place Lafayette zu. Es war ein schöner Tag, wie ich schon früher festgestellt hatte. Leichte Wattewölkchen segelten oben mit dem Wind. Die Markisen flatterten. Paris war mir nie zuvor so freundlich vorgekommen. Es tat mir fast leid, daß ich den armen Hund verladen hatte.
    An der Place Lafayette setzte ich mich mit dem Gesicht zur Kirche nieder und blickte den Glockenturm an. Es ist kein besonderer Prachtbau, aber dieses Blau auf dem Zifferblatt entzückte mich immer aufs neue. Es war heute blauer als je zuvor. Ich konnte nicht die Augen davon wenden.
    Wenn er nicht so verrückt war, ihr einen alles erklärenden Brief zu schreiben, brauchte Ginette nie zu erfahren, was geschehen war. Und selbst wenn sie erfuhr, daß er an die 2500 Francs für sie dagelassen hatte, so konnte sie das doch nicht beweisen. Ich konnte immer behaupten, daß er sich das einbildete. Ein Mann, der so verrückt war, ohne auch nur einen Hut auf dem Kopf auf und davon zu gehen, war durchaus fähig, die 2500 Francs oder was es war zu erfinden. Wieviel war es denn eigentlich, fragte ich mich. Das Gewicht zog meine Taschen hinunter. Ich nahm alles heraus und zählte es sorgfältig. Es waren genau 2875 Francs und 35 Centimes. Mehr als ich gedacht hatte. Die 75 Francs und 35 Centimes mußte ich loswerden. Ich wollte gerne eine runde Summe, glatte 2800 Francs. Gerade da sah ich einen Wagen am Gehsteig halten. Eine Dame mit einem weißen Pudel im Arm stieg aus: der Hund machte Pipi über ihr Seidenkleid. Der

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