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Wendekreis des Krebses

Wendekreis des Krebses

Titel: Wendekreis des Krebses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Miller
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zurücklassen konnte. Wird mir bewußt, daß sie fort ist, vielleicht für immer fort, so tut sich eine große Leere auf, und ich fühle, daß ich in einen tiefen schwarzen Raum falle, falle und falle. Und das ist schlimmer als Tränen, tiefer als Reue oder Schmerz oder Leid; es ist der Abgrund, in den Satan gestürzt wurde. Es gibt kein Zurück, keinen Lichtstrahl, keinen Laut einer menschlichen Stimme oder die Berührung einer menschlichen Hand.
    Wie viele tausend Male habe ich mich gefragt, wenn ich nachts durch die Straßen ging, ob je wieder der Tag kommen würde, an dem sie an meiner Seite schritte. Alle diese sehnsüchtigen Blicke, die ich auf die Gebäude und Statuen warf, die ich so verlangend, so verzweifelt angesehen hatte, daß inzwischen meine Gedanken ein Bestandteil eben der Gebäude und Statuen geworden sein müssen. Sie müssen gesättigt sein von meiner Qual. Ich konnte nicht umhin, auch darüber nachzudenken, daß sie, als wir Seite an Seite durch diese traurigen, düsteren, jetzt so mit meinem Traum und meiner Sehnsucht gesättigten Straßen gegangen waren, nichts wahrgenommen, nichts empfunden hatte: sie waren für sie wie jede andere Straße, vielleicht ein wenig schmutziger, das war alles. Sie würde sich nicht erinnern, daß ich an einer gewissen Ecke stehengeblieben war, um ihre Haarnadel aufzuheben, oder daß ich, als ich mich hinunterbeugte, um ihre Schuhbänder zu knüpfen, den Fleck sah, auf dem ihr Fuß gestanden hatte, und daß er für immer dort bleiben würde, selbst nachdem die Kathedralen zerstört waren und die ganze lateinische Kultur für immer und ewig ausgetilgt war.
    Als ich eines Nachts ungewöhnlich traurig und niedergeschlagen die Rue Lhomond hinunterging, wurden mir gewisse Dinge mit schmerzlicher Klarheit bewußt. Ob es deshalb war, weil ich diese Straße so oft in Bitterkeit und Verzweiflung durchwandert hatte, oder ob es die Erinnerung an einen Satz war, den sie eines Nachts ausgesprochen hatte, als wir an der Place Lucien-Herr standen, weiß ich nicht. «Warum zeigst du mir nicht das Paris», sagte sie, «über das du geschrieben hast?» Eines weiß ich, bei der Erinnerung an diese Worte erkannte ich plötzlich die Unmöglichkeit, ihr jemals das Paris zu offenbaren, das ich kennengelernt hatte, das Paris, dessen arrondissements nicht bestimmt sind, ein Paris, das es nie gegeben hat, außer kraft meiner Einsamkeit, meiner Sehnsucht nach ihr. Ein so großes Paris! Es würde ein Leben dauern, es noch einmal zu erforschen. Dieses Paris, zu dem ich allein den Schlüssel besaß, gewährt sich einem kaum auf einem Rundgang, auch wenn man ihn mit den besten Absichten macht. Es ist ein Paris, das gelebt werden will, das jeden Tag in tausend anderen Formen der Qual erlebt werden muß, ein Paris, das in einem wächst wie ein Krebsgeschwür, das wächst und wächst, bis man davon aufgefressen ist.
    Während ich die Rue Mouffetard hinunterschlenderte, wobei mir solche Überlegungen durch den Kopf gingen, fiel mir eine andere Einzelheit aus der Vergangenheit ein, aus diesem Stadtführer, dessen Seiten sie mich gebeten hatte vor ihr aufzublättern, den ich aber damals, weil der Einband zu schwer war, nicht aufzuschlagen vermocht hatte. Ohne Grund – denn in diesem Augenblick waren meine Gedanken mit Salavin beschäftigt, in dessen geheiligten Gefilden ich ziellos umherwanderte – ohne jeden Grund, wie gesagt, kam mir die Erinnerung an einen Tag, als ich, veranlaßt durch die Gedenktafel, an der ich tagtäglich vorüberkam, impulsiv in die Pension Orfila eintrat und bat, das Zimmer besichtigen zu dürfen, in dem Strindberg gewohnt hatte. Bis dahin war mir nichts wirklich Schreckliches widerfahren, wenn ich auch bereits alle meine irdischen Besitztümer eingebüßt und erfahren hatte, was es heißt, hungrig und in Angst vor der Polizei auf den Straßen umherzuirren. Bis dahin hatte ich nicht einen einzigen Freund in Paris gefunden, ein Zustand, der weniger deprimierend als überraschend war, denn wo immer ich mich in der Welt herumgetrieben hatte, ein Freund war für mich die leichteste Entdeckung gewesen. Aber in Wirklichkeit war mir noch nichts wirklich Schreckliches widerfahren. Man kann ohne Freunde leben, so wie man ohne Liebe oder sogar ohne Geld, diesem vermeintlichen sine qua non , leben kann. Man kann in Paris – das entdeckte ich! – einfach von Kummer und Qual leben. Eine bittere Nahrung – für gewisse Menschen vielleicht die beste, die es gibt. Jedenfalls war ich noch

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