Wendekreis des Krebses
nicht am Ende. Ich kokettierte nur mit dem Unglück. Ich hatte Zeit und Laune, die Nase in das Leben anderer Menschen zu stecken, mit dem toten Stoff der Romantik herumzutändeln, die, so morbide sie sein mag, köstlich entrückt und anonym scheint, sobald sie in einen Bucheinband gehüllt ist. Als ich den Ort verließ, huschte ein ironisches Lächeln um meine Lippen, so als hätte ich zu mir selbst gesagt: ‹Noch nicht die Pension Orfila!›
Seit damals freilich habe ich gelernt, was jeder Verrückte in Paris früher oder später entdeckt: daß es für die Verdammten keine gebrauchsfertige Hölle gibt. Es scheint mir, daß ich jetzt ein wenig besser verstehe, warum sie mit so riesigem Vergnügen Strindberg las. Ich sehe noch, wie sie von dem Buch hochblickt, nachdem sie eine köstliche Stelle gelesen hat, und mit Lachtränen in den Augen sagt:
«Du bist genauso verrückt wie er .… Du willst gestraft werden!» Welche Wonne muß es für die Sadistin sein, wenn sie die Masochistin in sich entdeckt! Wenn sie, wie es hier der Fall war, sich selbst ins Fleisch beißt, um die Schärfe ihrer Zähne zu erproben. In jenen Tagen, als ich sie erstmals kennenlernte, war sie erfüllt von Strindberg. Der Karneval wilder Launen, in denen er schwelgte, dieser ewige Zweikampf der Geschlechter, diese spinnenhafte Grausamkeit, die ihn den blöden Einfaltspinseln des Nordens lieb und wert gemacht hatten, all das hatte uns zusammengeführt. Wir kamen in einem Totentanz zusammen, und so rasch wurde ich in den Strudel hinuntergerissen, daß ich, als ich wieder an die Oberfläche kam, die Welt nicht wiederzuerkennen vermochte. Als ich mich frei fand, hatte die Musik aufgehört, der Karneval war zu Ende, und ich stand da, von allem beraubt …
Als ich an diesem Nachmittag die Pension Orfila verlassen hatte, ging ich in die Bibliothek und begann dort, nachdem ich im Ganges gebadet und über die Tierkreiszeichen nachgegrübelt hatte, über den Sinn der Hölle nachzudenken, die Strindberg so erbarmungslos geschildert hat. Und wie ich darüber nachsann, begann mir das Rätsel seiner Pilgerfahrt klar zu werden, die Flucht des Dichters über das Angesicht der Erde und dann, als sei ihm auferlegt gewesen, ein verlorenes Drama neu in Szene zu setzen, der heldenhafte Abstieg in die Eingeweide der Erde, der dunkle und schreckliche Aufenthalt im Bauch des Wals, der blutige Kampf, sich frei zu machen, von der Vergangenheit gereinigt als lichter, an eine fremde Küste geworfener blutbefleckter Sonnengott aufzutauchen. Es war mir kein Rätsel mehr, warum er und andere (Dante, Rabelais, van Gogh usw.) ihre Wallfahrt nach Paris gemacht hatten. Ich verstand nun, warum Paris die Gequälten, die Betörten, die großen Besessenen der Liebe anzieht. Ich verstand, warum man hier, an der Nabe des Rades, den phantastischsten, unmöglichsten Theorien anhängen kann, ohne sie im geringsten seltsam zu finden. Hier liest man wieder die Bücher seiner Jugend, und die Rätsel bekommen neuen Sinn, je einen für jedes weiße Haar. Man durchwandert die Straßen in der Gewißheit, daß man verrückt, daß man besessen ist, denn diese kalten gleichgültigen Gesichter sind die Visagen der eigenen Gefängniswärter. Hier schwinden alle Grenzen, und die Welt enthüllt sich als das verrückte Schlachthaus, das sie ist. Die Tretmühle erstreckt sich ins Unendliche, die Luken sind dicht geschlossen, die Logik rast zügellos mit blutig gezücktem Hackmesser. Die Luft ist frostig und abgestanden, die Sprache apokalyptisch. Kein Ausweg außer dem Tod. Eine Sackgasse, an deren Ende ein Schafott steht.
Eine ewige Stadt, dieses Paris! Ewiger als Rom, prächtiger als Ninive. Der wirkliche Nabel der Welt, zu dem man wie ein blinder und strauchelnder Idiot auf allen vieren zurückkriecht. Und wie ein Kork, der am Ende ins stille Wasser der Meeresmitte abgetrieben wurde, schwimmt man hier teilnahmslos, hoffnungslos – ohne sogar auf einen vorüberkommenden Kolumbus zu achten – auf dem Schaum und Auswurf der Wasser. Die Wiegen der Kultur sind die fauligen Abflüsse der Welt, das Beinhaus, in dem die eklen Gebärmütter ihre blutigen Fetzen aus Fleisch und Bein ablagern.
Die Straßen waren meine Zuflucht. Und kein Mensch kann den Zauber der Straßen verstehen, ehe er nicht gezwungen ist, in ihnen Zuflucht zu suchen, ehe er nicht ein Strohhalm geworden ist, der von jedem Windstoß hierhin und dorthin geweht wird. Man geht an einem winterlichen Tag durch eine Straße, und ein Hund,
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