Wendekreis des Krebses
gleiche, unerklärliche Lächeln spielt um meine Lippen, die Maske, die ich über meinen Kummer gezogen habe. Ich kann hier stehen und leer lächeln, und gleichviel, wie glühend meine Gebete sind, gleichviel, wie verzweifelt meine Sehnsucht nach ihr ist, zwischen uns liegt ein Ozean. Sie bleibt dort und verhungert, und hier gehe ich von einer Straße zur anderen, und die heißen Tränen netzen mein Gesicht. Dies ist die Art von Grausamkeit, die in die Straßen eingebettet ist. Sie ist’s, die von den Mauern herabstarrt und uns erschreckt, wenn uns plötzlich eine namenlose Furcht befällt und unsere Seelen von einem Schrecken heimgesucht werden wie von einer Krankheit. Sie verleiht den Laternenpfählen ihre gespenstischen Windungen, die uns winken und in ihren Würgegriff locken. Sie läßt gewisse Häuser wie die Wächter geheimer Verbrechen und ihre blinden Fenster wie die leeren Höhlen von Augen aussehen, die zuviel gesehen haben. Dieses Unnennbare im menschlichen Antlitz der Straßen läßt mich fliehen, wenn ich plötzlich über mir ‹Impasse Satan› angeschrieben sehe. Es läßt mich erschaudern, wenn ich entdecke, daß am Eingang der Moschee geschrieben steht: ‹Montag und Donnerstag Tuberkulose. Mittwoch und Freitag Syphilis.› An jeder Metro-Haltestelle grinsen einen Totenschädel an, die einen mit den Worten begrüßen: ‹ Défendez-vous contre la Syphilis! › Wo nur Mauern sind, sind Plakate mit hellfarbigen, giftigen Krabben angebracht, die den drohenden Krebs verkünden. Ganz gleich, wohin man geht, ganz gleich, was man anrührt, überall Krebs und Syphilis. Es ist an den Himmel geschrieben, es flammt und tanzt wie ein böses Vorzeichen. Es hat sich in unsere Seelen eingefressen, und wir sind nichts als ein totes Ding wie der Mond.
I ch glaube, es war am vierten Juli, als man mir wieder den Stuhl unterm Hintern wegzog. Kein Wort der Warnung. Einer der großen Drecksäcke aus Übersee hatte Einsparungen beschlossen. Die Entlassung von Korrektoren und hilflosen kleinen Stenotypistinnen ermöglichte ihm die Hin- und Rückreisen sowie die prächtige Zimmerflucht, die er im Ritz bewohnte. Nachdem ich die kleinen Schulden, die ich im Laufe der Zeit bei den Setzern gemacht, beglichen und einen freiwilligen Tribut im bistro über der Straße entrichtet hatte, um mir dadurch meinen Kredit zu bewahren, blieb kaum noch etwas von meinem letzten Gehalt übrig. Ich mußte den patron des Hotels davon unterrichten, daß ich ausziehen würde. Ich sagte ihm nicht, warum, denn sonst hätte er sich wegen seiner schäbigen zweihundert Francs Sorge gemacht.
«Was willst du tun, wenn du deine Stellung verlierst?» Das war der Satz, der mir dauernd in den Ohren klang. Ça y est maintenant! Ausgespielt! Es bleibt nichts anderes übrig, als wieder hinunter auf die Straße zu gehen, umherzulaufen, umherzulungern, auf Bänken zu sitzen, die Zeit totzuschlagen. Inzwischen freilich war mein Gesicht in Montparnasse bekannt. Eine Zeitlang konnte ich so tun, als sei ich noch an der Zeitung beschäftigt. Das würde es ein wenig erleichtern, ein Frühstück oder ein Mittagessen zu ergattern. Es war Sommerzeit, und die Touristen strömten herein. Ich hatte Pläne ausgeheckt, wie ich sie schröpfen konnte. «Was willst du tun …?» Ich wollte nicht verhungern, soviel stand fest. Wenn ich meine ganze Aufmerksamkeit aufs Essen richtete, würde ich schon nicht vor die Hunde gehen. Ein oder zwei Wochen konnte ich weiterhin zu Monsieur Paul gehen und dort jeden Abend eine ordentliche Mahlzeit einnehmen, er würde nicht wissen, ob ich Arbeit hatte oder nicht. Die Hauptsache ist: essen. Im übrigen vertraue auf die Vorsehung!
Natürlich hielt ich die Ohren offen für alles, was nach wenig Pinke-Pinke klang. Und ich pflegte Umgang mit einem ganz neuen Bekanntenkreis. Langweiler, die ich bisher peinlich gemieden hatte, Trunkenbolde, die ich verabscheute, Künstler, die ein wenig Geld besaßen, Guggenheimstipendiaten usw. Es ist nicht schwer, Freundschaften zu schließen, wenn man zwölf Stunden am Tag auf der terrasse herumsitzt, so lernt man jeden Saufbruder vom Montparnasse kennen. Sie heften sich an einen wie Läuse, auch wenn man ihnen nichts anderes zu bieten hat als seine Ohren.
Jetzt, da ich meine Stellung verloren hatte, lagen mir Carl und Van Norden mit einer anderen Frage in den Ohren: «Was, wenn jetzt deine Frau ankommt?» Nun, wenn schon. Zwei Mäuler zu füttern statt einem. Ich hätte eine Gefährtin im Elend. Und wenn
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