Wendekreis des Krebses
ich zufällig mit einem Buch unterm Arm an die Arbeit kam, bemerkte es unser Chef, und wenn es ein gutes Buch war, wurde er giftig. Aber ich tat nie absichtlich etwas, um sein Mißfallen zu erregen; ich hing zu sehr an dem Job, um mir eine Schlinge um den Hals zu legen. Andererseits fällt es schwer, sich mit einem Menschen zu unterhalten, mit dem man nichts gemein hat; man verrät sich, auch wenn man nur einsilbige Worte verwendet. Er wußte verdammt gut, der Chef, daß ich an seinem Geschwätz nicht das leiseste Interesse nahm. Und doch, erklärt es wie ihr wollt, es macht ihm Vergnügen, mich von meinen Träumereien abzubringen und mit Daten und geschichtlichen Ereignissen vollzustopfen. Es war vermutlich seine Art, Rache zu nehmen. Das Ergebnis war, daß ich so etwas wie eine leichte Neurose bekam. Sobald ich hinaus an die Luft kam, geriet ich außer mir. Es war gleich, was zufällig das Gesprächsthema war, während wir am frühen Morgen nach Montparnasse zurückgingen, bald richtete ich die Feuerspritze darauf und erstickte es, um meinen verdrehten Träumen nachhängen zu können. Am liebsten sprach ich über Dinge, von denen keiner von uns etwas wußte. Ich hatte eine sanfte Idiotie entwickelt, ich glaube, man nennt sie Echolalie. Alle Brocken aus einer Korrekturnacht tanzten mir auf der Zunge. Dalmatien – ich hatte den Abzug einer Annonce für dieses wunderbare Ferienjuwel in Händen gehabt. Schön, Dalmatien. Man steigt in den Zug, und am Morgen bricht einem der Schweiß aus den Poren, und die Trauben platzen aus ihren Schalen. Über Dalmatien konnte ich vom großen Boulevard bis zum Palais Mazarin und noch weiter quasseln, wenn ich wollte. Ich weiß nicht einmal, wo es auf der Landkarte liegt, und will es auch nicht wissen, aber um drei Uhr morgens, mit all diesem Blei in den Adern, den mit Schweiß und Patschouli gesättigten Kleidern, dem Geklimper der durch die Presse getriebenen Armreifen und diesen Biertischreden, die mich aufgekratzt hatten, haben Kleinigkeiten wie Geographie, Trachten, Sprache und Bauweise nichts zu besagen. Dalmatien gehört einer ganz bestimmten Stunde der Nacht an, wenn die hohen Töne verstummt sind und der Hof des Louvre so wundervoll lächerlich erscheint, daß einem ohne jeden Grund zum Weinen wird, ganz einfach, weil er so herrlich still, so verlassen, so vollkommen anders ist als die Titelseite und die oben Würfel spielenden Burschen. Mit diesem Stückchen Dalmatien, das sich wie eine kühle Messerklinge auf meine tobenden Nerven legte, konnte ich die schönsten Reisegefühle durchleben. Und das Komische wiederum ist, daß ich um die ganze Welt reisen konnte, aber Amerika kam mir nie in den Sinn. Es war mir weiter entrückt als ein untergegangener Kontinent, denn zu den untergegangenen Kontinenten fühlte ich eine geheimnisvolle Verbundenheit, während ich Amerika gegenüber nichts, rein nichts empfand. Dann und wann, das ist wahr, dachte ich an Mona, nicht wie an einen Menschen in einem gewissen Fluidum von Zeit und Raum, sondern gesondert, losgelöst, so als wäre sie in eine große wolkenartige Form zerstoben, die die Vergangenheit verdunkelte. Ich durfte mir nicht gestatten, sehr lange an sie zu denken. Hätte ich es getan, so wäre ich von der Brücke gesprungen. Es ist seltsam, ich hatte mich so mit diesem Leben ohne sie ausgesöhnt, und doch, wenn ich nur einen Augenblick an sie dachte, so genügte das, mir durch Mark und Bein meiner Zufriedenheit zu gehen und mich wieder in den quälenden Morast meiner erbärmlichen Vergangenheit zu werfen.
Sieben Jahre ging ich Tag und Nacht mit nur einem Gedanken im Kopf umher – dem an sie. Wenn ein Christ seinem Gott so treu wäre, wie ich ihr, wären wir heute alle Jesus Christusse. Tag und Nacht dachte ich an sie, sogar wenn ich sie betrog. Und jetzt, manchmal mitten in irgend etwas anderem, manchmal, wenn ich fühle, daß ich von dem ganzen völlig frei bin, tauchen plötzlich, vielleicht wenn ich um eine Ecke biege, ein kleiner Platz, ein paar Bäume und eine Bank, eine einsame Stelle auf, wo wir standen und es ausfochten, einander verrückt machten mit bitteren Eifersuchtsszenen. Immer ein einsamer Fleck, wie zum Beispiel die Place de l’Estrapade oder diese engen, düsteren Straßen bei der Moschee oder am offenen Grabgewölbe der Avenue de Breteuil entlang, die um zehn Uhr nachts so still, so tot ist, daß sie in einem den Gedanken an Mord und Selbstmord weckt, an alles, was die Spur eines menschlichen Dramas
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