Wendland & Adrian 01 - Schattenwölfe
Straßenrand. Er ließ die Seitenfenster herunter und blickte hinauf zum Kopf der Trasse. Der Lärm der Planierraupen drang zu ihm, Motorsägen kreischten, und langsam stürzte ein großer Laubbaum zu Boden. Gablenz schätzte, daß sein Holz einen beachtlichen Verkaufserlös bringen würde. Was ihn interessierte, war, wie die Organismen des Waldes auf diesen massiven Eingriff reagierten. Er konzentrierte sich auf jenen Bereich, wo die Arbeiter gerade dabei waren, Bäume zu fällen.
Jäh wurde sein Bewußtsein von einer großen Woge intensiver Empfindungen geradezu überflutet. Er stöhnte auf, und nur mit Mühe gelang es ihm, den Kontakt wieder abzubrechen. Schweiß trat ihm auf die Stirn. Er umklammerte mit den Händen das Lenkrad, bis seine Fingerknöchel weiß hervortraten, und starrte auf die geordneten, klar strukturierten Skalen von
Tacho und Drehzahlmesser, um die Fassung wiederzugewinnen.
Was ihn schon bei der Taube überrascht hatte, galt für die Organismen dort an der Baustelle in noch größerem Maße: eine enorme Intensität emotionaler Empfindungen, die angesichts der Kleinheit eines Eichhörnchen- oder gar Meisengehirns erstaunte. Wenn er die empfangenen Emotionen mit menschlichen
Wertungen belegte, mußte er sich eingestehen, daß er Panik, Verwirrung und Todesangst verspürt hatte.
Etwas irritierte ihn so sehr, daß er zunächst an eine Fehlwahrnehmung glaubte. Er schien auch Empfindungen von Bäumen aufgefangen zu haben, was doch eigentlich undenkbar war. Er zwang sich zu erneuter Konzentration und starrte intensiv auf eine große Buche, in deren Stamm gerade ein Arbeiter seine Motorsäge trieb. Jetzt gelang es Gablenz besser, die Ruhe zu bewahren, gleichmäßig zu atmen, objektiv und nüchtern zu bleiben, während er sein Gehirn gewissermaßen auf Empfang schaltete. Doch, es bestand kein Zweifel: Der Baum strahlte tatsächlich Empfindungen aus. Nach menschlichen Maßstäben litt er.
Wie ein aus relativ primitiven Zellstrukturen bestehender Organismus, der nicht über ein Gehirn, ja noch nicht einmal über ein Nervensystem verfügte, dennoch Schmerzen empfinden konnte, war ein Rätsel, für das Gablenz keine wissenschaftliche Erklärung fand. Hier würde noch viel Forschungsarbeit erforderlich sein.
Er ließ den Motor wieder an und fuhr hinunter nach Buchfeld. Im Ort bog er links ab, Richtung belgische Grenze. Durch Felder und Wiesen führte die Straße bergauf. Kurz vor Wiesbach bog Gablenz in eine schmale Zufahrtsstraße ein, die hinunter ins
Naturschutzgebiet Itzbachtal führte und dort auf dem Parkplatz des Eifelwildparks endete. In den Sommermonaten war der Park ein beliebtes Ausflugsziel, so daß es nur noch wenige freie Plätze gab.
Gablenz stieg aus dem Wagen. Statt sich in die Schlange vor der Kasse einzureihen, ging er an der Einzäunung des Parks entlang, vorbei an einem idyllischen alten Forsthaus. Am Südrand des Parks grenzte das große Gehege, in dem das Wolfsrudel untergebracht war, unmittelbar an den Wald. Gablenz folgte dem hohen, massiven Drahtzaun bis zu einer Stelle, von der aus er die Freifläche vor der Besuchertribüne gut einsehen konnte, ohne selbst aufzufallen. Er lehnte sich gegen einen Baumstamm, schloß die Augen und konzentrierte sich. Test Nummer zwei konnte beginnen.
Als Chris Adrian sich mit einer Schubkarre, auf der von Fliegen umschwärmte rohe Fleischbrocken lagen, dem Wolfsgehege näherte, bemerkte sie einen Mann, der außerhalb des Parks ein wenig versteckt zwischen den Bäumen stand und die Freifläche vor der Besuchertribüne beobachtete. Die meisten Leute hätten den Mann vermutlich übersehen, aber Chris’ scharfen, in der Wildnis trainierten Augen, die es gewohnt waren, immer ein wenig suchend und sichernd umherzublicken, fiel er auf. Ein großer, kräftiger Mann mit rötlichen Haaren.
Chris fragte sich, warum er die Fütterung von dort draußen verfolgte, statt es sich auf der Tribüne bequem zu machen. Nun, vermutlich irgendein Spaziergänger.
Das rund eineinhalb Hektar große Gehege der
Wölfe war im hinteren Teil bewaldet, mit dichtem Unterholz, in das sich die Wölfe tagsüber zurückzogen. Es gab dort einen schmalen Taleinschnitt, durch den ein kleiner Bach floß. Hier hatte das Rudel mehrere Wurfhöhlen für die Jungen gegraben. Auf der gerodeten, grasbewachsenen Freifläche am Ostrand des Geheges fand am frühen Nachmittag die tägliche Fütterung statt. Damit die Besucher die Wölfe dabei gut beobachten konnten, hatte man direkt am Zaun
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