Wendland & Adrian 03 - Nachtauge
ausgewachsenen Schäferhund zu töten.
Dann flog aus der Dunkelheit etwas auf Sempold zu, etwas Großes, Schwarzes. Sempold schrie auf. Krupka sah schimmerndes schwarzes Fell, einen im Sprung lang gestreckten Körper. Eine große schwarze Raubkatze. Sempolds Schrei erstarb in einem erstickten Gurgeln, während das Raubtier ihn nach hinten umwarf. Sein Körper zuckte einen Moment, lag dann reglos. Die Raubkatze mit dem nachtschwarzen Fell hob den Kopf und schaute Krupka an, der wie angewurzelt dastand, ohne auch nur an seine Pistole zu denken. Sogar aus zehn Metern Entfernung wirkte sie groß, geradezu riesig. Krupka bemerkte ihre Katzenaugen, die von innen heraus gelblich zu leuchten schienen. Sie fauchte wieder und Krupka sah ein Raubtiergebiss aufblitzen, von dem Blut herabtropfte. Dann sprang sie mit langen Sätzen davon und verschmolz mit der Dunkelheit. Krupka sah sie nicht mehr und vermochte auch nicht mit Sicherheit zu sagen, in welche Richtung sie verschwunden war. Jetzt fiel ihm seine Pistole wieder ein. Vorsichtig, die Pistole hoch erhoben, näherte er sich Sempold. Sein Herz schlug bis zum Hals. Nun erst hatte der Schreck richtig Gelegenheit ihm in die Glieder zu fahren. Sempold war tot. Seine Augen starrten leer in den Nachthimmel. Um seinen Kopf breitete sich eine Blutlache aus und seine Kehle war eine einzige klaffende Wunde. Mit zitternder Hand zog Krupka sein Telefon aus der Tasche. Der Chef, dachte er, zuallererst muss ich den Chef informieren.
Chris Adrian träumte. Es war einer dieser seltenen, unglaublich intensiven schamanischen Träume, von dem sie, schlafend und wachend zugleich, wusste, dass sie ihn nach dem Aufwachen nicht wieder vergessen würde. Über ihr wölbte sich ein Sternenhimmel, der fremde Konstellationen zeigte. In ihren schamanischen Träumen hatte sie schon öfter unter diesem Himmel voller fremder Sterne gestanden, der nicht der irdische Himmel sein konnte. Sie sah einen alten Mann, der langsam auf sie zukam. Das Gespenst eines alten Mannes, nur ein silbriger, schwankender Schemen. Das halb im Schatten verborgene, tief gefurchte Gesicht kam ihr vertraut vor. Silver Bear, ihr alter Lehrer, der vor über zwei Jahren gestorben war.
Sie wich dem Blick seiner toten Augen aus und starrte hinauf in den fremden Himmel. Dort oben gab es nicht nur Fixsterne. Da waren Lichtpunkte, die einen Feuerschweif hinter sich herzogen und nicht die starre Bahn von Kometen beschrieben, sondern sich in eleganten Kurven über den Himmel schwangen.
Dann hörte Chris Silver Bears Stimme. Anfangs verstand sie die Worte nicht. Die Stimme schien so weit entfernt zu sein wie der fremde Himmel mit den seltsamen Flugobjekten. Ihr wurde klar, dass Silver Bear in seiner indianischen Muttersprache redete. Mühsam kramte sie ihre bruchstückhafte Erinnerung an diese Sprache zusammen. »Ich habe mich geirrt ... mich in vielem geirrt, Schwester Wolfsträumerin.« Sein Gesicht faltete sich zu dem müden, spöttischen und zugleich wehmütigen Grinsen, das sie immer so geliebt hatte, und sie spürte eine Woge der Zuneigung. »Was ich dich gelehrt habe, war sehr unvollständig. Aber sowieso ist das Streben nach Vollkommenheit ein großer Irrtum ...« Seine Worte wurden zu einem unverständlichen Gemurmel. Er zeigte hinauf in den Himmel. »Siehst du die Reisenden zwischen den Welten?«, fragte er, plötzlich in klar verständlichem Englisch. »Dieser Himmel, den du hier siehst, ist ein Fenster in die Vergangenheit.«
Er machte einen Schritt auf Chris zu. Und jetzt sah sie sein Gesicht so deutlich, als sei er nie gestorben. »Ich habe dir versprochen, dass wir uns wieder sehen. Der Tod ist keine Grenze, an der die gemeinsame Verantwortung aufhört.« Er lächelte. »Vielleicht füge ich der langen Reihe meiner Fehler und Irrtümer ja nur einen weiteren hinzu, indem ich mich bemühe dir auch künftig gelegentlich zur Seite zu stehen. Aber der Mut zu kosmischen Irrtümern sollte uns angesichts unserer irrwitzigen Vergangenheit niemals verlassen.«
Sie hatte keine Ahnung, wovon er redete, aber seine Neigung in Rätseln zu sprechen, war schon, als er noch unter den Lebenden weilte, ziemlich ausgeprägt gewesen. Jetzt legte er ihr seine Geisterhand auf die Schulter und sie fühlte sich warm an, als existierte sein Körper noch immer, wenigstens in dieser Traumwelt.
Er betrachtete Chris prüfend, mit schmalen, sich im Netzwerk der vielen Furchen und Falten seines Gesichts fast auflösenden Augen. »Meine ewig neugierige
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