Weniger sind mehr
beeinflussen. Auch in der Wirtschaft, in der Familie und in der Kultur wird Macht gebildet, gefestigt, vergrößert und geschmälert – aber gleichsam nebenbei. In der Politik werden Macht und Steuerung zur Hauptsache, zum Leitwert. Und es handelt sich um eine besondere, eine besonders gefährliche Art von Macht, auf der Konzentration und Legitimation physischer Gewalt beruhen. Und dazu um eine Macht, die nicht nur zugunsten des politischen Subsystems, sondern zugunsten der Gesellschaft insgesamt eingesetzt werden soll.
Das Bild einer Politik, die überall eingreifen kann und letztlich |231| auch für Missstände und Fehlentwicklungen verantwortlich ist, die in anderen Systemen passieren, hat sich uns im Laufe der letzten Jahrhunderte tief eingeprägt. Es ist schwierig, sich von der Vorstellung einer solchen Allmachtspolitik wieder zu lösen. In der öffentlichen Diskussion aber ist eine derartige Selbstbescheidung der Politik durchaus spürbar. Sie äußert sich in der geläufigen Formel, die Politik solle »Rahmenbedingungen« für Wirtschaft, Religion, Sport, Familie und so weiter schaffen.
In ihrem Selbstverständnis und im Ansinnen ihrer Bürger schwankt Politik jedoch nach wie vor zwischen direkten Eingriffen in andere Lebenssphären, den Rückzug auf die liberale Position des Gewährenlassens – die Bürger beziehungsweise die Familien, Kirchen, Universitäten sollen ihre Angelegenheiten selbst regeln – und einem Eigeninteresse oder Eigensinn an Machtmehrung, das in modernen westeuropäischen Gesellschaften eher als unfein gilt und deshalb oft verhohlen wird.
Aber so ist es nun einmal: Alles, was sich im Zusammenleben der Menschen tut, wird vom politischen System und seinen Repräsentanten zunächst (wenn auch nicht nur) unter dem Aspekt wahrgenommen, ob es das politische System selbst und seine Macht und Steuerungskapazität stabilisiert.
Die Philosophen der griechischen Polis – immerhin schon einer frühbürgerlichen Gesellschaft – waren nicht zimperlich, ein staatliches Interesse an eigenem Nachwuchs zu formulieren und zugleich die Druckmittel vorzuschlagen, es durchzusetzen. Plato forderte:
Wenn ... jemand nicht gutwillig gehorcht, sondern sich im Staate wie ein Fremdling und Sonderling anstellt und bis zum 35. Lebensjahre keine Ehe schließt, der soll alljährlich eine Geldstrafe bezahlen, und zwar einer aus der obersten Vermögensklasse 100 Drachmen, einer aus der zweiten Klasse 70, einer aus der dritten 60, einer aus der vierten endlich 30 Drachmen ... Außerdem soll ihm von den Jüngeren auch durchaus keine Ehrenbezeigung erwiesen werden, und niemand von der jungen Klasse soll ihm in irgendeinem Stücke freiwillig gehorchen. 1
|232| Dem bevölkerungspolitischen Instrumentenkasten Platos fügt Aristoteles noch einiges hinzu: Der Gesetzgeber solle festlegen, dass die Eheleute vom Alter her zueinander passen, damit die Gebärfähigkeit gewährleistet ist. Angemessen sei es, wenn sich die Frauen ungefähr mit 18 Jahren, die Männer mit etwa 37 Jahren verheiraten. Andererseits sei die Kindererzeugung zu beschränken. Werde sie freigegeben, wie das in den meisten Staaten der Fall sei, so müsse sich das für die Bürger als eine Ursache der Armut auswirken, die Aufruhr und Verbrechen nach sich ziehe. 2
Hier sind also schon die beiden Elemente beisammen, die aus der Geschichte des Staatsdenkens nicht mehr wegzudenken sind: die Vorstellung einer »richtigen« Anzahl der Nachkommen und die Idee, dass die Politik dies zu richten habe. Heute wirken diese Ansichten ziemlich modern. Sie haben sich einerseits noch präzisiert in der von Demografen ausgegebenen Devise, dass 2,1 Kinder pro Frau die Bevölkerung im Zeitablauf stabil erhielten und damit fraglos richtig seien; andererseits in einer Unzahl von Einzelforderungen, was der Staat zu tun habe, damit die »richtige« Fertilitätsrate auch verwirklicht werde.
Anders gesagt: In der öffentlichen Diskussion heute gibt es hinsichtlich von zwei Thesen einen partei- und ideologieübergreifenden politischen Konsens: Es würden zu wenig Kinder geboren, und der Staat solle etwas dagegen tun. Dass es dabei um Eigeninteressen und Eigenmacht des Staates und der Staatsmänner selbst geht, haben diese hinter hehren Zielen und Zukunftsvisionen immer zu verbergen gewusst.
Der Staat muss [...] als Wahrer einer tausendjährigen Zukunft auftreten, der gegenüber der Wunsch und die Eigensucht des Einzelnen als Nichts erscheinen und sich zu beugen haben. [...] Er
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