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Weniger sind mehr

Titel: Weniger sind mehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Otto Hondrich
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Selbsthilfecharakter haben und quasi Familienfunktionen übernehmen. So berichtet ein
Spiegel special
über »Die Chancen der alternden Gesellschaft« über Seniorenwohngemeinschaften und Mehrgenerationenhäuser sowie über hochqualifizierte Ruheständler, die ihr Fachwissen an Jüngere weitergeben. 16 »Jung im Kopf« ist der Titel des Sonderhefts. Seine Botschaft: Durch individuelle Einfälle und Initiativen lassen sich Probleme lösen, die durch Geburtenrückgang und individuelle Langlebigkeit entstanden sind.
    Allerdings: Irgendwann ist es vorbei mit unserer Eigenständigkeit |228| und Individualität – und sei es nur, weil uns die Kräfte verlassen. In einer Gesellschaft, in der immer mehr alte Menschen leben, drängt sich unweigerlich nicht nur ein Bild der rüstigen jüngeren Alten, sondern auch der hinfälligen alten Alten auf. Könnte dieser Anblick die jüngeren Leute in den »entscheidenden Jahren« nicht dazu bewegen, mehr eigene Kinder zu bekommen – um später liebevoll umsorgt zu sein oder um die eigene schwindende und unausweichlich verschwindende Individualität in veränderter Gestalt über den individuellen Tod hinaus zu erhalten? Auch ohne philosophische Reflexion scheint den Menschen dieses Bestreben elementar innezuwohnen. Wir können schlicht darauf vertrauen, dass das so bleibt.
    Und doch setzt es sich in der modernen Gesellschaft nicht ungebrochen durch. Es hat Widersacher. Da ist zum einen die Einsicht, dass das Individuum sich auch in seinen Kindern und Kindeskindern nur teilweise und für geringe Zeit vor dem Verschwinden und Vergessenwerden retten kann. Wer weiß noch etwas von seinen Urgroßeltern und anderen Vorfahren, die er nicht persönlich nachdrücklich erlebt hat? Der zweite Widersacher gegen die Vernunft des Vorausschauens und Vorausplanens ist die Macht der unmittelbaren Gegenwart des eigenen Lebens. Sie legt gleichsam eine Aura um uns und distanziert uns, trotz aller Empathie, von denjenigen, die uns räumlich und zeitlich ferner sind. Dazu gehören die Alten. Wir sehen sie, von unserem Lebenspunkt aus, zwar auch als Vorzeichen unserer eigenen Zukunft, aber mehr noch als Relikte einer Vergangenheit, die uns nicht mehr betrifft. Im Alter können wir uns, mehr oder weniger, an die Jugend erinnern. In jüngeren Jahren aber nicht ans Alter. Während wir das Alter vor uns sehen, können wir es noch nicht wirklich erleben. Das trifft auch auf die Elternschaft zu. Wenn wir noch keine Kinder haben, können wir die Bedürfnisse, die uns an Kinder binden, noch nicht wirklich empfinden. Stattdessen fürchten wir den Verlust der Bedürfnisse und Bindungen, die uns als Nichteltern eigen sind und einen Eigensinn, ja Eigenwert bekommen. Damit sind |229| die Probleme angedeutet, die aus der Sicht des Individuums für Kinder sprechen und, ebenfalls aus individueller Sicht, der Geburt von Kindern doch entgegenstehen.
    Sicher ist es richtig: Als Individuen sind die Menschen heute frei, Kinder zu zeugen, zu bekommen und großzuziehen. Sie sind dazu nicht mehr gezwungen. Ihre Freiheit ist nicht selbstverständlich und zeitlos, sondern eine Errungenschaft der neueren Zeit. Die Freiheit, keine Kinder zu haben, wird noch größer werden. Die Freiheit zu wirklichen Wunschkindern auch. Und doch werden hinter diesen Freiheiten nicht nur die Zwänge sozialer Systeme sichtbar, sondern auch die Konflikte im Individuum selbst. Ob sie auf längere Sicht die Geburtenrate eher niedrig halten, ja noch weiter senken oder wieder größer werden lassen, bleibt eine offene Frage.

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    |230| Kapitel 7
Steuerung durch die Politik
    Wähnen wir die Individuen mit ihren Freiheiten für den Stand der Geburtenrate verantwortlich, dann bleiben sie doch, was deren weitere Entwicklung angeht, unsichere Kantonisten. Die Frage nach der weiteren Entwicklung der Geburtenrate wird damit zurückgegeben: an die Zwänge und Impulse, die vom sozialen Leben ausgehen. Von den Logiken und Steuerungsmechanismen der Wirtschaft, der sozialen Sicherungssysteme, der Familie und der Kultur schlechthin war schon die Rede. Bleibt das soziale System, das in besonderer Weise erkoren scheint, die übrigen Systeme, die Individuen, kurz die Gesellschaft insgesamt zu steuern: die Politik.
    Das politische System ist zwar nur ein Teilsystem unter anderen. Aber die Besonderheiten, die es gegenüber den übrigen Systemen herausheben, springen ins Auge: Es geht um den absichtsvollen Einsatz von Macht, um andere Systeme zu

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