Weniger sind mehr
hat [...] dafür zu sorgen, dass die Fruchtbarkeit des gesunden Weibes nicht beschränkt wird durch die finanzielle Luderwirtschaft eines Staatsregiments, das den Kindersegen zu einem Fluch für die Eltern gestaltet. Er hat mit jener faulen, ja verbrecherischen Gleichgültigkeit, mit der man heute die sozialen Voraussetzungen einer kinderreichen Familie behandelt, aufzuräumen und muss |233| sich an Stelle dessen als oberster Schirmherr dieses köstlichsten Segen eines Volkes fühlen. [...] Der völkische Staat hat hier die ungeheuerste Erziehungsarbeit zu leisten. 3
Welches konkrete Machtinteresse hinter dieser Anrufung des Kindersegens und des Volkswohls stand, sollte einige Jahre später auf das Bitterste deutlich werden. Adolf Hitler, aus dessen Buch
Mein
Kampf
die zitierte Beschreibung der Bevölkerungspolitik stammt, brauchte und missbrauchte diese im Sinne eines aggressiven Staats, wie er ihn verstand. Aber schon damals klafften die Erziehungsabsichten einer staatlichen Geburtenpolitik und die Eigenmacht familialer Selbststeuerung auseinander: Ein Geburtenaufschwung gelang den Nazis nicht.
Dass Geburtenziffern nicht schlicht auf Geburtenpolitik reagieren, sondern Bestandteil tieferer und komplexer gesellschaftlicher Entwicklungen sind, zeigt sich am Vergleich Deutschlands und Frankreichs im 19. und 20. Jahrhundert. 1789 war Frankreich mit 27,5 Millionen Einwohnern (neben dem europäischen Russland) das volkreichste Land Europas, seine Bevölkerung deutlich zahlreicher als diejenige Deutschlands. 1871/72 hatte Deutschland mit 41 Millionen das nur langsam wachsende Frankreich mit 36 Millionen Einwohnern schon überflügelt. 1910 betrug der Abstand zugunsten Deutschlands bereits 64 zu 39 Millionen Menschen. 4 Gegenwärtig, fast 100 Jahre später, behauptet Deutschland seinen Vorsprung mit 82,5 gegenüber 62 Millionen Einwohnern.
Aus diesen Zahlen ist zu erkennen, erstens, dass die deutsche Bevölkerung über 200 Jahre hinweg, wenn auch in unterschiedlichen Schüben, deutlich stärker gewachsen ist als die französische; zweitens, dass Frankreich in der Verringerung der Geburtenzahl im 19. Jahrhundert deutlich zum Vorreiter Europas geworden ist; drittens, dass der Vorrang Frankreichs nicht nur auf ausgefeilte und ausgedehnte Verhütungspraktiken – und damit bereits auf eine besondere Stellung der Frau –, sondern auf einen Modernisierungsvorsprung |234| schlechthin zurückzuführen ist; viertens, dass der Rückgang der Geburten in Frankreich unabhängig von der Propaganda für Geburtenkontrolle verlief, denn er setzte wesentlich früher ein; fünftens, dass die gegenwärtige geburtenfördernde Politik, für die Frankreich gerade auch vielen deutschen Politikern als Vorbild dient, weniger eine Trendumkehr bedeutet, als vielmehr den schon lange im europäischen Vergleich vorauseilenden Fall der französischen Geburtenrate aufhalten soll.
Wie sehr die Politik die Geburtenrate als Politikum ansieht, lässt sich an der langen Geschichte deutsch-französischer Rivalität studieren. Dabei hat Politik, besonders seit sie sich, stimuliert durch die Französische Revolution, als Politik von nationalen Staaten versteht, ein simples Verständnis vom Nutzen hoher Geburtenzahlen. Sie sieht sie als Quelle von Macht durch Masse, besonders von militärischer Macht; der Kaiser braucht Soldaten. Die Debatten um den Geburtenrückgang schwellen deshalb in den Zeiten an, in denen Macht besonders auf dem Spiel steht: vor und nach Kriegen.
Die quantitative Entwicklung der Diskussion über Geburtenkontrolle zeigt also ein klares Bild: in Frankreich ein großer Umfang, erste Beiträge seit 1860–70, Beginn einer intensiven Debatte um 1880 mit Höhenpunkten um 1895 und kurz vor dem Ersten Weltkrieg. In Deutschland dagegen vor 1900 fast nichts und eine klare Zunahme 1912–1914. 5
Christiane Dienel, der wir diese genaue sozialhistorisch-vergleichende Analyse zu
Kinderzahl und Staatsräson
verdanken, arbeitet in ihrer Untersuchung heraus, wie sehr sich die Diskussion über den Geburtenrückgang in Deutschland und Frankreich am Blick auf den Nachbarn und Rivalen und an nationalstaatlichen Interessen orientierte. In Frankreich wird die Niederlage im Krieg 1870/71 und die Gefahr weiterer nationaler Schwächung mit dem Fall der Geburtenrate in Verbindung gebracht. Dabei geben die französischen Nationalisten einem Wort von Moltke Flügel, der gesagt haben soll, seit 1870 habe Frankreich täglich eine Schlacht verloren. 6
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