Weniger sind mehr
Bürgern, deutschen wie französischen, ganz anders gesehen und interpretiert: nicht als Machtverlust, sondern als Modernisierungsgewinn – mit eindeutigem Vorsprung Frankreichs, das im Konzert der europäischen Mächte gleichsam verfrüht den »Übergang zur Qualitätsproduktion« bewerkstelligt habe. Ärzte wiesen auf die niedrigere Kinder- und Müttersterblichkeit in Frankreich anerkennend hin, der Soziologe Robert Michels rühmte sowohl die »erhöhte Friedfertigkeit« Frankreichs als auch »die ästhetisch feinsten Lebenssitten und die höchste Geschmacksentwicklung«, die Höhe des privaten Reichtums und des durchschnittlichen Lebensstandards, ganz besonders aber die Französin als »verhältnismäßig befreite Frau, die begonnen habe, über ihre Lage nachzudenken, sich dagegen auflehne, eine Gebärmaschine zu sein«. 12 Den Deutschen wird hingegen ins Gebetbuch geschrieben, dass sie gerade erst am Anfang der Zivilisation stünden und dass »große Helme und große Kanonen kein großes Volk hervorbringen«. Die Franzosen machten sich über den deutschen Bevölkerungswahn und die ständigen Schwangerschaften der deutschen Frauen lustig. In Deutschland sprach man von der »Unfruchtbarkeit« der französischen Familie und fand verächtliche Worte für das dortige »Zweikindersystem«. 13
Aber auch in Deutschland rührte sich damals, besonders unter sozialdemokratischen Frauen, Widerstand gegen die häufigen Schwangerschaften und »gegen den staatlichen Gebärzwang«. Linksliberale traten ohnehin schon früh für die Freiheitsrechte des Individuums ein und bekräftigten, »dass hier ein Feld ist, auf dem die Polizei nichts zu suchen hat«. 14 Ebenso wurde in den einfachen Schichten, weniger öffentlich, aber nicht unvermindert deutlich, |238| Unmut gegenüber einem Staat artikuliert, der den Nachwuchs der Familien für seine militärischen und machtpolitischen Zwecke an sich zieht.
In Deutschland bildete sich, wie in Frankreich, wenn auch später, eine breite Strömung einer individualistischen und familienbezogenen Moral, die nicht prinzipiell staatskritisch war, wohl aber die Familienangelegenheiten, insbesondere das Kinderkriegen, zur Privatsache erklärte. Die Familie entzog sich dem Staat, ihr Eigensinn wuchs, ihre Neigung, sich nach außen abzugrenzen, gar abzuschotten, und selbst über sich zu bestimmen, war unaufhaltsam.
Das ist ein Trend, der ungeachtet nationaler Variationen, nationsübergreifend beobachtet werden kann. Erfahrungen und technologische Neuerungen der Empfängnisverhütung spielen dabei eine wichtige Rolle. Sie sind jedoch nur ein Aspekt einer Verselbstständigung, ja Entfremdung der Familie gegenüber einem Staat, der von seinen gewohnten und gewohnheitsrechtlichen Regulierungen und Eingriffen nicht lassen will.
Kann die Politik den Fall der Geburtenrate aufhalten?
Wie stellt sich die Politik, in diesem Falle die jeweilige Regierung und Opposition, darauf ein, dass sich die verschiedenen Lebenssphären von ihr freimachen, das Steuer im eigenen Boot selbst ergreifen und einen selbstbestimmten Kurs anpeilen, der, im Fall der Familie, in eine Art dünnbesiedeltes, geburtenarmes Niemandsland zu führen scheint?
Dass dieser Kurs für die Familie selbst stabilisierend sein könnte, kommt ihr nicht in den Sinn. Ob die jeweilige Familienministerin Ursula von der Leyen, Renate Schmidt oder anders heißt, sie versteht sich immer als Vollstreckerin unserer Vorurteile, die parteiübergreifend geteilt werden. Sie lauten, wie schon dargelegt: Es gibt zu wenig Kinder, und die Politik muss mehr dagegen tun. Dass sie |239| mit ihren Maßnahmen die erwünschten Wirkungen erzielt – hier und heute den Fall der Geburtenrate aufhält und umkehrt –, wird dabei als selbstverständlich vorausgesetzt. Skeptikern werden insbesondere drei Beispiele aus der jüngeren Wirkungsgeschichte vor Augen gehalten: die DDR, die skandinavischen Länder und Frankreich.
Zwar ist die DDR durch das autoritäre Bestimmenwollen der Politik in allen anderen Lebensbereichen, insbesondere in der wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und religiösen Sphäre spektakulär gescheitert. Im Nachhinein sind jedoch viele Menschen der Meinung, dass sie gerade in der Familien- und Geburtenförderung Erfolge erzielt habe. Hat sie nicht jungen Eltern, ob alleinerziehend oder im Paar lebend, jede erdenkliche Unterstützung bei der Beschaffung von Wohnraum, Kinderkrippen- und Kindergartenplätzen, Fortbildungsmaßnahmen, Arbeitsplätzen und
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