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Weniger sind mehr

Titel: Weniger sind mehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Otto Hondrich
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ideologisches Konstrukt, sondern als alltägliche und kollektiv emotional verankerte Praxis, also als moralische Großmacht, durchgesetzt hat.
    Die entscheidenden Jahre
    Doch wie ist es für die Individuen selbst, wenn sie aus der Fülle der mittleren Jahre mit ihren Genüssen und Anspannungen heraustreten und sich, älter werdend, ohne eigene Kinder wiederfinden? Ob ihre Kinderlosigkeit nun eine biologisch vorgegebene und (fast) unabänderliche oder eine soziale ist, in der vielfältige Zwänge und Weichenstellungen den Kinderwunsch bis zu seiner schließlichen Nichterfüllung aufgeschoben haben – das Leid und die Einsicht, im Alter ohne eigene Nachkommen zu sein, kommen zu spät, um ihm durch eigene Entscheidung noch vorbeugen zu können. Es mag hier so sein wie auf vielen Feldern des gesellschaftlichen Fortschritts: Die Vorteile für eine Mehrheit werden von einer beträchtlichen Minderheit – in diesem Falle der 20 bis 30 Prozent Kinderlosen – ausgebadet. 15
    Die Minderheit der kinderlos Älterwerdenden und Alten weist eine Besonderheit auf. Objektiv gesehen hat sie die Gesellschaft |224| und sich selbst entlastet. Von den mindestens dreifachen »Normalbelastungen« der mittleren Jahre – durch Beruf, Sorge für die Alten und Aufzucht der Kinder – hat sie eine zentrale Sphäre, die Elternschaft, einfach weggeschnitten. Objektiv gesehen ist Kinderlosigkeit eine Entlastung. Entsprechend können andere Sphären, insbesondere der Beruf, Raum gewinnen. Subjektiv gesehen allerdings kann Kinderlosigkeit für die Betroffenen überaus leidvoll sein – so schmerzvoll es eben ist, die wichtigste Sache des Lebens, nämlich das Leben selbst, zwar erhalten zu haben, aber nicht weitergeben zu können. Hier mag ein tiefer Bruch in der grundlegenden Moral der Gegenseitigkeit vermutet werden, auf der alles gesellschaftliche Leben beruht. Gegenseitigkeit zwischen den Generationen heißt ja nur vordergründig, dass man den alten Eltern an Zuwendung und Gütern etwas zurückerstattet, was einem in jungen Jahren von ihnen zuteil wurde.
    Reziprozität in der Zeit und Kontinuität der Gesellschaft bedeuten vielmehr, dass man der nächsten Generation weitergibt, was man von der vorherigen erhalten hat. Wo dies nicht geschieht, mag es moralische Verwerfungen in der gesellschaftlichen Tiefe geben – so tief allerdings, dass sie in der aktuellen Diskussion gar nicht thematisiert werden können; vergleichbar allenfalls den Bodenrissen, die die Gewalt eines Erdbebens schwerlich erahnen lassen.
    Halten wir uns also an die Vorgänge, die wir leichter sehen und begreifen können. Auf den ersten Blick sieht es so aus, dass Nichteltern im Vergleich zu Eltern eine jugendliche Individualität länger bewahren können, haben sie es doch, wegen geringerer Belastung, auch einfacher, sich beruflich, sportlich und in der Freizeit in jugendlichen Kreisen zu bewegen. Und doch altern sie eher als Eltern. Diese setzen sich zwar in der Elternrolle von der nächsten Generation ab und sehen insofern alt aus. Andererseits versetzen sie sich aber auch in die eigenen Kinder hinein und durchleben mit ihnen ein zweites Mal, aus anderer und komplexer Perspektive, Nöte und Wünsche von Kindheit, Jugend und – später – mittleren |225| Jahren. Es ist, als ob sie in einen geistigen und emotionalen Jungbrunnen stiegen. Und das ganz ohne eine Anstrengung oder ein »Projekt« der Selbstentfaltung.
    Während sie sich mit eigenen Kindern identifizieren, setzen sie sich zugleich unweigerlich von ihnen ab. Und während sie sich in ihre eigenen Kindern hineinfühlen, setzen sie sich zugleich mit ihren eigenen Eltern in eins. Eltern verstehen Eltern. Indem man sich besser versteht, löst man sich leichter voneinander. Der Stab ist weitergegeben.
    Erwachsene ohne Kinder bleiben selbst länger in der Rolle des Kindes. Sie bleiben immer Nichteltern. Den eigenen Eltern gegenüber, mögen sie sie auch im sozialen Aufstieg überflügeln, werden sie niemals ebenbürtig. Sie können ihre Empfindungen nie ganz teilen. Sie lösen sich schwerer von ihnen, als Eltern sich von ihren Eltern lösen. Mangels Bindungen an eigene Kinder, die nach vorn, in die Zukunft weisen, dominieren bei den Kinderlosen Rückbindungen an alte Eltern, eventuell Onkel, Tanten und Geschwister. Unwillkürlich und untergründig bleiben sie deshalb, obwohl aufrichtig zukunftsoffen, der Vergangenheit oft stärker verbunden, als sie selbst für möglich halten.
    Sie sehen einem kinderlosen Alter entgegen.

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