Weniger sind mehr
Deutschland fühlte man sich angesichts der alternden »Grande Nation« jung und fruchtbar, als aufblühender, kraft- und saftreicher deutsche Staat. »Andererseits ließ der deutliche Geburtenrückgang spätestens seit 1910 schon ahnen, dass das Absinken auf französische Verhältnisse nur noch eine Frage der Zeit sein würde.« 7 Aber so sehr waren Frankreich und Deutschland in der Geburtenfrage aufeinander fixiert, dass in Deutschland die Redeweise vom »Geburtenrückgang« aufkam und dramatisiert wurde, als die deutsche Bevölkerung die französische schon weit überflügelt hatte und ununterbrochen stark wuchs. Das war um 1905 herum. In einem Artikel »Geburtenrückgang« schreibt H. Prehn von Dewitz im Jahre 1914:
Es war vor knapp einem Jahrzehnt, da tauchte zum ersten Male in Deutschland das Wort »Geburtenrückgang« auf. Seitdem zog sich sein Begriff, bald wie ein Schreckgespenst drohend, bald entmutigend wie eine unüberwindliche nationale Niederlage, durch das ganze Volksleben. Berufene und unberufene Federn verkündeten den drohenden Rückgang der Bevölkerung, und gleich dem übertreibungslustigen Nachbarn jenseits der Vogesen sah der ehrsame Bürger die langsame Entvölkerung des 70-Millionen-Reichs vor Augen. Ein allgemeines Tohuwabohu hatte große Kreise der Bevölkerung erfasst. 8
Wie sich die
deutsche Angst
damals und die heute, genau 100 Jahre später, gleichen! Heute sind es allerdings die Franzosen, die, eher amüsiert und herablassend, die alte nationale Rivalität auch im neuen europäischen Verbund kaum verhehlend, auf das geburtenschwache Deutschland blicken. Als europäische Verbündete sehen sie in ihm sogar ein demografisches Sorgenkind 9 . Noch immer scheint man beiderseits des Rheins Macht und politisches Gewicht einer Gemeinschaft an Menschenzahlen und Zahlenwachstum zu messen – heute allerdings weniger im Vergleich mit Nachbarnationen als mit anderen Rivalen, insbesondere mit den kinderreichen islamischen Gesellschaften.
In der Zwischenzeit hatte sich Deutschland allerdings für ein |236| knappes Jahrhundert aus der Debatte über den Zusammenhang zwischen politischer Macht und Bevölkerungsentwicklung verabschiedet. Mit realen Geburten- und Bevölkerungsziffern hatte dies allerdings nichts zu tun; umso mehr aber mit einer Veränderung der Machtkonstellationen: Die Deutschen hörten 1945 auf, eine nationale Macht zu sein – und fanden das weniger schlimm als gerecht. Außerdem empfanden sie sich als eingebettet; zunächst in die Schutzbündnisse der Siegermächte, später in das friedlich gesonnene Europa. Die nationalen Streitkräfte wurden abgeschmolzen; im vereinigten Deutschland von fast einer Million auf 250 000 Soldaten. Anstelle der großen Zahlen traten als Machtfaktoren die technische Professionalität des Militärs und der Zusammenschluss der europäischen Staaten.
Angesichts der Macht des Ganzen verloren nationale Bevölkerungsgrößen an Bedeutung – bis in jüngster Zeit durch die Beitrittsbestrebungen der bevölkerungsreichen Türkei ein neues Machtpoker mit Geburtenraten eröffnet wurde. Unversehens tauchten die Demografen wieder auf, die so lange im Schatten nationaler Machtvergessenheit selbst vergessen worden waren. Jetzt läuten sie die Alarmglocken nicht mehr nur für die nationalen, sondern auch für die im globalen Wettbewerb so schlecht abschneidenden europäischen Geburtenraten. Der ganze Jammer einer durch jahrzehntelange Nichtbeachtung gekränkten Demografie revanchiert sich jetzt in einer apokalyptischen Vorausschau auf
Die demographische
Zeitenwende
; so der Titel eines Buchs von Herwig Birg über den Bevölkerungsrückgang in Deutschland und Europa. 10 Schon beim ersten Satz ergreift den Leser wohliges Gruseln:
In 50 Jahren wird mehr als ein Drittel der deutschen Bevölkerung aus Zuwanderern bestehen, und dennoch wird die Bevölkerungszahl weiter zurückgehen. Angesichts ähnlicher Prognosen für die Nachbarländer stellt sich aus demographischer Sicht die scheinbar unzeitgemäße Frage: Verschwindet Europa? 11
Die Angst vor dem Untergang des Abendlandes wird hier und |237| heute genauso genährt wie vor 100 Jahren durch französische Nationalisten die Angst vor dem Untergang der französischen Zivilisation und – auf der anderen Seite des Rheins – die Angst vor der Selbstschwächung Deutschlands – alles immer aufgrund ein und desselben Vorgangs: des Falls der Geburtenrate.
Genau derselbe Vorgang wurde aber schon damals von klarblickenden
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