Weniger sind mehr
Steuerzahler als Solidargemeinschaft zu bezeichnen, dagegen sträubt sich die Zunge, weil diese Menschen ihren Beitrag nicht freiwillig, sondern gezwungenermaßen leisten; von den enormen Unterschieden ihrer Steuerkraft zu schweigen.
Auch die gesetzlichen Sozialversicherungen sind im strengen Sinne keine Solidargemeinschaft, mag ihnen dieses Wertwort auch noch so oft magisch-beschwörend angeheftet werden. Es fehlt ihnen an Freiwilligkeit ebenso wie an Gegenseitigkeit unter Gleichen. Wohl umweht sie noch, seit den Zeiten ihrer Gründung vielleicht, ein Hauch von Zusammengehörigkeit. Was da, in überschaubarem Rahmen, zusammenlief, ist bis heute nicht ganz entschwunden: ein Gefühl gleicher Klassen-, ja Schicksalslage der aufstrebenden Arbeiterschaft; zwischen Arbeitern und Unternehmern ein bindendes Gefühl der Interessengleichheit, das, wie spannungs- und konfliktreich auch immer, Loyalität und Verantwortung in sich trug; und, nicht zuletzt, ein Gefühl gleicher Nationalität, denn es war und ist der nationale Rahmen, in dem die soziale Gesetzgebung den Grund für die Systeme sozialer Sicherheit legt. Auch heute, unter Bedingungen fortschreitender Globalisierung, haben die drei Bindekräfte der Klasse, des Unternehmens und der Nation ihre kristalline, solidaritätsstiftende Wirkung nicht verloren. Allerdings ist gerade die traditionsbewusste Sozialpolitik, die das Pathos der Solidarität am lautesten im Munde führt, auch diejenige, die die realen Bedingungen von Solidarität am ehesten ignoriert und unterhöhlt.
Denn solche realen Bedingungen gibt es. Es sind die Gefühle freier Bürger, aufgrund von gemeinsamen und gegenseitigen Leistungen und Gegenleistungen zusammenzugehören, füreinander Verantwortung zu übernehmen und sich dabei auch gegenseitig auf die Finger zu schauen. Die schiere, erst recht aber die erzwungene Vergrößerung von sozialen Versicherungssystemen höhlt diese |80| Bedingungen aus. Allein die große Zahl der Beteiligten lässt das Handeln des Einzelnen als folgenlos für das Ganze erscheinen; so nährt sich eine Verantwortungslosigkeit, ein Trittbrettfahren, indem die Ausbeutung des Kollektivs durch das Individuum die Idee von Leistung und Gegenleistung ersetzt.
Dieser Prozess wird noch verstärkt, wenn die Vergrößerung beziehungsweise Öffnung von Solidarsystemen politisch erzwungen wird. In ihrem Innern wächst die Ungleichheit zwischen Leistungsfähigen und Leistungsschwachen, zwischen Leistung und Gegenleistung. Es wird zusammengezwungen, was nach sozialer Lage, Herkunft und Leistung nicht zusammengehört. Die Verwandlung von Solidarität in Zwang wäre dabei nicht an sich das Schlimmste, würde sie nicht die Leistungsfähigkeit der Sicherungssysteme herabsetzen. Was als ausgleichende Gerechtigkeit zwischen Arm und Reich gedacht ist, verletzt Leistungsgerechtigkeit. Die Leistungstüchtigen, ihrer Wahlmöglichkeiten und Alternativen beraubt, sinnen auf Auswege, die Leistungsschwachen sehen keinen Ansporn zur Eigen- und Solidarverantwortung. Das System insgesamt entfernt sich noch weiter von den Kontroll-, Ausgleichs- und Lenkungsfunktionen des freien Marktes und lässt sich schließlich nur noch bürokratisch, durch zusätzlichen Zwang steuern. Mit Selbststeuerung hat das immer weniger zu tun.
Überflüssig zu sagen, dass diese Solidarprobleme der sozialen Sicherungssysteme mit Geburtenrückgang erkennbar nichts zu tun haben. Weder sind sie durch den Fall der Geburtenrate verursacht, noch reizen sie zu weniger oder mehr Geburten an.
Privatisierung der sozialen Sicherungssysteme
Angesichts der Probleme, die den sozialen Sicherungssystemen durch ausgediente und überdiente Solidarität entstehen, verwundert es nicht, dass sie ihre Finanzmisere auch in entgegengesetzter |81| Richtung zu lösen versuchen, nämlich durch private Zusatzversicherungen. Heute pfeifen es die Spatzen von den Dächern: Die zukünftigen Rentnergenerationen werden monatlich einen kleineren Teil ihres Arbeitseinkommens als Rente zugewiesen bekommen als die heutigen. Sie werden ja auch länger leben und damit den arbeitenden Generationen länger auf der Tasche liegen. Mit dem Geburtenrückgang hat das kaum etwas zu tun.
Die schrittweise Privatisierung der Alters- und Krankenvorsorge bedeutet aber eine doppelte und dreifache Entsolidarisierung. Zum einen ist die Solidargemeinschaft als Ganzes, so groß sie auch geworden sein mag, nur noch für einen Teil der Alters- beziehungsweise Krankenversorgung
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