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Weniger sind mehr

Titel: Weniger sind mehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Otto Hondrich
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gemeinsame Sache beziehen, nämlich auf die Verteilung der Lasten und Leistungen in den sozialen Sicherungssystemen.
    Niemand hat die integrative Funktion des Streits – eine latente, den Streitenden unbewusste Funktion – origineller herausgearbeitet als vor hundert Jahren der geniale Georg Simmel. Entfalten kann der Streit diesen Sinn nur, sofern er im Schlagabtausch die Gemeinsamkeiten hervorholt oder erschafft, die die Menschen hinterrücks zusammenbinden, während sie vorn aufeinander losgehen. Das Verbindende ist dabei zugleich das Mäßigende; wo es fehlt, verläuft der Streit tödlich oder findet überhaupt nicht statt. |86| In der Auseinandersetzung zwischen den Generationen kommt das Verbindend-Mäßigende schon allein dadurch zustande, dass die Jüngeren sein werden, was die Älteren sind, und die Älteren waren, was die Jüngeren sind.
    Dieses existenzielle Band zwischen den Generationen erfährt in den mitteleuropäischen Sozialstaaten, besonders im deutschen und skandinavischen Sprachraum, noch eine besondere Verfestigung. Hier ist der Streit zwischen Arbeit und Kapital, Reich und Arm, Stadt und Land, zwischen Konfessionen und weltanschaulichen Ordnungskonzepten, insbesondere zwischen liberalen und sozialen, progressiven und konservativen, zwischen leistungsbedrohten und auf sozialen Ausgleich bedachten Weltentwürfen institutionalisiert.
    Man kann diesen Prozess über mehrere Jahrhunderte zurückverfolgen. Er verlief nicht ohne sozialutopische Fantastereien, Brüche, Gewalt. Aber die Verhandelnden, die nach Beteiligung und Anerkennung Suchenden, die Rechts-, Partei-, Gewerkschafts- und Interessengruppen Bildenden überwogen doch die zersetzenden und dominanzorientierten Elemente. So wuchsen, den formalen Demokratien eher vorausgehend und sie unterfütternd, politische Verhandlungssysteme heran, in denen unterschiedliche Interessen aufeinanderprallten und zugleich doch, rituell die Klingen kreuzend, dabei gegenseitige Abhängigkeiten und eine hintergründige Gemeinsamkeit von Regeln und Werten hervorbrachten.
    Das Ganze war und blieb – in Mitteleuropa mehr als in den angelsächsischen Ländern – auf einen vorhandenen, ursprünglich feudalistischen und autoritären Staat fixiert, der sich zum Rechts-, Bildungs-, Sozial- und Demokratiestaat entwickelte. Von einem neokorporatistischen System sprechen die Politikwissenschaftler heute. Welche Namen wir auch immer wählen: Wir finden hier vorgeprägte und bewährte politische Verhandlungsstrukturen, die sich auch neuartiger Konflikte und Probleme annehmen und diese entschärfen.
    Bei dem politischen Aushandeln von Beitrags- und Leistungssätzen |87| , Freiräumen und gesetzlichen Zwängen in den Systemen sozialer Sicherung kommt es nicht darauf an, eine allein richtige und quasi endgültige Lösung zu finden – obwohl eine solche etwa als zukunftsweisende Rentenformel von den politischen Akteuren immer wieder als Ideal angemahnt wird und ihnen auch vor Augen zu schweben scheint. Vielmehr kommt es im Gegenteil darauf an, das System flexibel zu halten und immer wieder im Detail, gelegentlich auch in den Grundzügen zu ändern. In Versuchs-Irrtums-Prozessen werden so die Gerechtigkeitsvorstellungen der Generationen von Fall zu Fall gegeneinander austariert; ebenso aber auch Gerechtigkeitsvorstellungen gegenüber Leistungswerten der Systeme hintangestellt und umgekehrt.
    Durch Verschiebung der Lasten im Innern wird das System organisierter Solidarität nicht ausgehebelt, sondern im Verfahren von Versuch und Irrtum stabilisiert. Dass dabei eventuell alle Generationen kürzertreten müssen, ist weniger demografischen Faktoren geschuldet als Veränderungen im Leistungsgefüge der Weltwirtschaft. Die westlichen Industrienationen haben ja keinen göttlich verbrieften ökonomischen oder moralischen Anspruch, ihren Vorsprung gegenüber ärmeren und aufstrebenden Gesellschaften auf alle Zeit zu halten. Der Wohlstandsvorsprung der westlichen spätindustriellen Gesellschaften drückt sich statistisch am deutlichsten in der längeren Lebenserwartung der Menschen aus. Um diesen Erfolg an Quantität und Qualität des Lebens bezahlen zu können, wurden die Ansprüche der Rentner in den vergangenen Jahren in verschiedenen Reformanläufen nach und nach um rund ein Drittel gekürzt. Früher wurden bis zu 13 Ausbildungsjahre wie Arbeitsjahre zum Rentenbezug angerechnet; das ist inzwischen gestrichen worden. Korrekturfaktoren sorgen dafür, dass die Renten künftig immer

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