Weniger sind mehr
machen deutlich, wenn ihnen zu wenig gegeben wird. Sie beschweren sich, wenn ihnen zu viel abverlangt wird. Sie wehren sich, wenn ihnen andere Systeme ins Rad greifen. Aber sie können sich dessen nicht immer erwehren. So geschehen im Rahmen der deutschen Wiedervereinigung. Damals unterzog die Politik die Systeme sozialer Sicherung einer ungeheuren Belastungsprobe. Sie sollten, auf ihre Art, einen Großteil der Kosten der Wiedervereinigung tragen. Ihre Fähigkeit zur Selbststeuerung war damit überfordert.
Dass sich ein soziales System selbst reguliert, heißt nicht, dass |75| es alles alleine machen kann. Es ist auf die Vorgaben anderer Systeme angewiesen. Insbesondere die Systeme sozialer Sicherung brauchen einen Willen und gesetzliche Regelungen, die aus der Politik kommen. Politik kann und muss Weichen stellen. Das hat der Bismarcksche patriarchalische Staat für die sozialen Sicherungssysteme getan. Dann mussten sie selbst laufen lernen. Und das haben sie auch getan. Über zwei Weltkriege, Inflation und wirtschaftliche Krisen und Zusammenbrüche hinweg haben sie sich mit erstaunlicher Robustheit immer wieder aufgerichtet: mit der Wirtschaft und der Familie im Rücken.
Mit der Wiedervereinigung geschah aber etwas ganz und gar Ungewöhnliches. Rund 18 Millionen ostdeutscher Arbeitnehmer und ihre Angehörigen wurden in die westdeutschen Sicherungssysteme aufgenommen und anspruchsberechtigt – ohne vorher eingezahlt zu haben und ohne von nun an einzahlen zu können. Dies traf nicht auf alle, aber auf viele zu, weil ihre Arbeitsplätze nach westlichen Maßstäben veraltet und unproduktiv waren und im frischen Wind der Konkurrenz nicht bestehen konnten. Damit nicht genug, verloren die DDR-Unternehmen mit dem Zusammenbruch der anderen sozialistischen Wirtschaftssysteme auch ihre gewohnten Märkte im Osten.
Was damals passierte, kann man auch positiv sehen. In einem gewaltigen Versuchs-Irrtums-Prozess, der ein halbes Jahrhundert und in der Sowjetunion sogar sieben Jahrzehnte dauerte, experimentierte die moderne, fortschrittsversessene Welt mit zwei Arten von Systemsteuerung. In den sozialistischen Gesellschaften des Ostblocks und auch zahlreicher Entwicklungsländer der südlichen Hemisphäre sollte die Politik die übrigen Lebenssphären, insbesondere die Wirtschaft steuern. In den liberal-demokratischen und auch in den zunächst noch autoritären Gesellschaften (Spanien, Portugal, Lateinamerika) dagegen gewannen Wirtschaft, soziale Sicherheit, Recht, Religion zusehends Unabhängigkeit voneinander; zwar stets bemüht, das Wasser der anderen Systeme im eigenen Interesse auf die eigenen Mühlen zu lenken, |76| aber zugleich doch immer stärker darauf bedacht, diese eigenen Interessen und Leitwerte selbst auszuformulieren und sich nicht von anderer Seite, insbesondere der Politik, hineinreden und hineindirigieren zu lassen.
Theoretisch lässt sich das als zunehmende Autonomie der Lebenssphären oder funktionalen Systeme bezeichnen. Praktisch wird es von den Menschen als mehr Freiheit empfunden. Als dann um 1990 der »Wettbewerb der Systeme« zu einer grandiosen und kaum erwarteten welthistorischen Entscheidung – oder sagen wir besser: Zwischenentscheidung – führte, war dies gleichbedeutend mit einem Triumph der selbststeuernden Systeme über politische Systemsteuerung. Zwei Paradoxien blieben allerdings erhalten, ja verstärkten sich: zum einen die Vorstellung, es handele sich um den Sieg einer Politik über eine andere – denn die Idee, dass Gesellschaften hauptsächlich politisch gesteuert werden, ist trotz des Scheiterns dieser Idee auch im Westen keinesfalls untergegangen. Zum andern war die Euphorie über den politischen Sieg des Westens so groß, dass dessen politisches System, verkörpert im kraftvollen Optimismus des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl, die anderen Lebenssphären regelrecht überfuhr und ihre selbststeuernden Abwehrkräfte teilweise außer Kraft setzte.
So geschah es den Systemen sozialer Sicherung. Sie ließen sich per »Ordre de Mufti«, also durch politische Entscheidung, die Verpflichtung aufdrücken, Millionen von Leistungsempfängern aufzunehmen, die gar nicht in der Lage waren, selbst Beiträge zu zahlen. Neben ehemaligen DDR-Bürgern gehörten dazu Spätaussiedler und Übersiedler aus Polen und der ehemaligen Sowjetunion, zudem eine zunächst unerwartete Zahl von Asylsuchenden aus aller Welt; ihr Zustrom in die Bundesrepublik erreichte gerade zu Beginn der neunziger Jahre
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