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Weniger sind mehr

Titel: Weniger sind mehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Otto Hondrich
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abgesichert sein. So entstanden, in Deutschland angestoßen durch die Bismarckschen Sozialreformen, nach und nach Renten-, Kranken-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung. Diese gesetzlichen oder Pflichtversicherungen sind bis in die jüngste Zeit hinein ausgebaut worden. Im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts kam noch die Pflegeversicherung hinzu.
    Heute sind rund 90 Prozent aller Deutschen gesetzlich versichert. Nur circa 10 Prozent in freien Berufen oder mit besonders hohem Einkommen wird die Freiheit zugestanden, sich privat zu versichern. Die Beamten, die im Alter eine Pension und im Krankheitsfall eine Beihilfe vom Staat bekommen, sind gehalten, sich zusätzlich privat zu versichern. Wenn derzeit allerdings von den Systemen sozialer Sicherung die Rede ist, dann meint man im engeren Sinn die gesetzlichen Versicherungen. Ursprünglich waren sie ganz um die Berufstätigkeit herum organisiert: Die Beiträge der pflichtversicherten Arbeitnehmer wurden zur Hälfte von diesen selbst, zur anderen Hälfte von ihren Arbeitgebern aufgebracht |73| . Heutzutage reicht es nicht mehr aus: Der Steuerzahler muss einen erheblichen Batzen hinzutun. So wuchs das System zu einer beeindruckenden Dreifaltigkeit organisierter Solidarität zusammen. Die soziale Sicherung, die praktisch der gesamten Bevölkerung zugutekommt, wird durch Arbeitnehmer, Arbeitgeber und Steuerzahler bezahlt. Dies ist mehr als eine technisch-finanzielle Regelung. Sie hat auch einen lange gewachsenen Traditionswert, indem sie die Leistungsträger der Gesellschaft – Arbeitnehmer, Arbeitgeber und Steuerzahler – zu einer symbolischen Solidarität zusammenbindet – zugunsten der Alten, Arbeitslosen und Jungen, die mitversichert sind.
    Für alle, die trotzdem in Not geraten, springt die von den Gemeinden verwaltete staatliche Sozialhilfe ein. Sie verzweigt sich mit Blick auf unterschiedliche Problemgruppen – Jugendliche, Asylsuchende, langfristig Arbeitslose (Hartz IV). Grundsätzlich gilt: In Deutschland soll niemand hungern und darben oder unversorgt leiden. So will es das Sozialstaatsprinzip. Es gilt nicht nur für deutsche Staatsbürger, sondern für alle, die sich auf deutschem Staatsgebiet befinden. In dieses Gebiet hineinzugelangen, begründet bereits einen Anspruch; er beruht nicht nur auf deutscher Herkunft beziehungsweise Nationalität. Sozialstaatliche Solidarität geht weiter als nationale. Sie bildet damit einen Anreiz zur »Einwanderung in den Sozialstaat«, auch ohne nationale Verbundenheit und ohne Chancen für die Einwanderer, sich beruflich einzugliedern.
    Bei den gesetzlichen Versicherungen – den Sicherungssystemen im engeren Sinn – liegen die Dinge anders. Zwar fragen auch sie im Grunde nicht nach Staatsbürgerschaft und Nationalität. Umso mehr aber nach Berufstätigkeit. Sie integrieren über die offizielle Teilhabe am Berufsleben. Ob jemand aus Deutschland, der Türkei oder Thailand stammt, ist ihnen egal. Hauptsache, er/sie und sein/ihr Arbeitgeber führen die Versicherungsbeiträge ab.
    Trotzdem führt schon das Wort Versicherung in die Irre. Es lässt vermuten, dass die Beiträge der Versicherten sich zu einem |74| Kapitalstock ansammeln, aus dem später ihre Renten, ihre Krankheitskosten und ihr Lebensunterhalt bei Arbeitslosigkeit gezahlt werden. Dieses »Kapitaldeckungsverfahren« wurde aber schon vor 50 Jahren durch ein »Umlageverfahren« ersetzt. Was von den Beschäftigten und ihren Arbeitgebern an Beiträgen eingezahlt wird, wird auf der Stelle an die Rentner und Kranken von heute wieder ausgezahlt. Und weil das Geld nicht reicht, legt der Staat noch Steuermittel drauf. Gegenwärtig sind das fast 80 Milliarden Euro pro Jahr, ein Drittel des gesamten Bundeshaushaltes. Wenn die Systeme sozialer Sicherung nicht für sich selbst sorgen können und die Politik so viel zuschießen muss – woran liegt es? Immer wieder drängen sich dieselben Antworten auf: Es seien zu viele Alte und Arbeitslose zu versorgen; es würden zu wenig Junge geboren; die Wirtschaft, die die sozialen Sicherungssysteme letztlich tragen muss, wachse nicht kräftig genug; die Familie könne ihre Versorgungsaufgaben nicht mehr erfüllen ...
    Prüfen wir diese und andere mögliche Gründe der Reihe nach.
    Die politische Fehlsteuerung sozialer Sicherung – überzogene Solidarität
    Soziale Systeme, auch die Systeme sozialer Sicherung, steuern sich selbst. Von anderen Systemen wie Familie, Medizin, Wirtschaft, Politik holen sie sich, was sie brauchen. Sie

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