Weniger sind mehr
einen Höhepunkt. Eine politische Ausnahmeaufgabe ungeheuren Ausmaßes, die Integration eines Staatsgebietes und einer Bevölkerung, die fast ein Drittel der alten Bundesrepublik ausmachten, wurde so zum Teil mit Geldern aus den Sozialversicherungen finanziert.
|77| Wären diese ein wirklich selbststeuerndes System gewesen, hätten sie dem niemals zustimmen können. Sie hätten zum Beispiel darauf bestehen müssen, dass die Ost-Renten aus dem Steuertopf, also von der Zwangssolidarität aller Staatsbürger aufgebracht würden. Da dies nicht geschah, mussten sie die Beiträge in der Folge um etwa 3 Prozentpunkte erhöhen und blieben dennoch auf steigende staatliche Zuschüsse angewiesen. Die höheren Beiträge schlugen sich bei den Unternehmen als höhere Arbeitskosten nieder und machten so Arbeit in Deutschland immer teurer. Eine Abwärtsspirale aus schwachem Wirtschaftswachstum und steigender Arbeitslosigkeit wurde ausgelöst. Mehr Arbeitslose bedeuten für die Renten- und Krankenkassen weniger Beitragszahler. So wurden, durch eine besondere Kraftanstrengung im politischen System, sowohl das Wirtschaftssystem als auch die Systeme sozialer Sicherung geschwächt.
Erweiterte Solidarität – eine Lösung ?
Eine Reihe von Sozialpolitikern, besonders linker und sozialdemokratischer Herkunft, verfiel auf einen Ausweg: erweiterte Solidarität. Sie wird heute als eine mögliche Reform der sozialen Sicherungssysteme diskutiert. Zwar hatte die politische Erweiterung der Solidargemeinschaft Anfang der neunziger Jahre die Sicherungssysteme bereits überfordert und in die Misere gesteuert; es handelte sich um eine Erweiterung der Anspruchsberechtigten. Aber nun soll, ebenfalls unter dem Stichwort der Solidarität, der Kreis der Zahlungsverpflichteten erweitert werden. Im Auge haben die linken Reformer dabei diejenigen rund 10 Prozent der Bevölkerung, die als Gutverdienende und Beamte nicht gesetzlich, sondern frei versichert sind. Ziehe man sie in die Zwangsversicherungen hinein, dann käme das einer Finanzspritze gleich. So jedenfalls die Überlegungen der Reformer von links.
Dabei ist das Sanierungsargument nicht einmal ihre stärkste |78| Waffe. Viel kraftvoller wirkt moralisch die Aufforderung, Solidarität zu erweitern und die (vermeintlichen) Vorteile der Privatversicherten und Beamten zu kappen. Darin steckt, ob betont oder nicht, der Schlachtruf: Mehr Gleichheit, mehr Gerechtigkeit! In einer Gesellschaft wie der deutschen, besonders der ostdeutschen, in der diese Werte als Abstraktionen immer einen höheren Wert innehatten als die Ideen Freiheit und Leistung, ist damit schon viel an Legitimität gewonnen.
»Reform durch Umverteilung!«, das klingt so bestechend und enthält so viel moralische Suggestion, dass die eigentlichen Notwendigkeiten und Gründe zur Reform, nämlich die Finanzmisere der sozialen Sicherungssysteme und ihre mangelnde Selbststeuerung, schnell vergessen sind. Demgegenüber muss daran erinnert werden, dass Solidarität eine wichtige Quelle der Selbststeuerung von Systemen ist – aber eine höchst empfindsame. Sie ist zwar nicht auf einen bestimmten Kreis von Menschen fixiert, kann aber auch nicht ohne weiteres und beliebig erweitert werden. Sie kommt in modernen Gesellschaften nicht ganz ohne organisatorische Unterstützung und staatlichen Zwang aus, beruht aber im Wesenskern auf Gefühlen der Gegenseitigkeit, die von Menschen aus freien Stücken geteilt werden. Solidarität kann somit wachsen und schrumpfen – aber nicht unbeschränkt und auch nicht auf Befehl, sondern nur in Grenzen und freiwillig, durch die Einsicht der Beteiligten. Solidarität als Übereinstimmung ist ein kollektives Gefühl, und wie alle Gefühle behauptet sie ihre Spontaneität und ihren Freiraum gegenüber allen Versuchen, sie anzuordnen und politisch in Dienst zu stellen.
Kurz: Solidarität als ein Gemeinschaftsgefühl, das gegenseitige Unterstützung und Versicherung begründet, kann nur zwischen solchen Menschen entstehen und wachsen, die sich in wichtigen Punkten als Gleiche einander zugehörig fühlen und als Freie füreinander eintreten. Zwischen europäischen Arbeitern, Ärzten, Pfarrern, Parlamentariern et cetera einerseits und den Hungernden in der Sahelzone andererseits kann es persönliche und politische |79| Caritas und Dankbarkeit geben, aber keine Solidarität, weil die Ungleichheiten zu groß sind, um eine Hilfe oder Versicherung auf Gegenseitigkeit aufkommen zu lassen. Die Millionenzahl der deutschen
Weitere Kostenlose Bücher