Weniger sind mehr
umgekehrt den Familien. Sie rufen von der Familie etwas ab, was man nicht als Liebe bezeichnen kann, sondern als nützliche Hilfsleistungen, Motivationen, Verbindungen: Hilfe bei Hausaufgaben, Krankenbesuche, Fahrdienste, Pflege, Stellenvermittlungen und so weiter. Die Familie, der dadurch Funktionen abgefordert werden, die eigentlich von anderen, spezialisierten Funktionsbereichen erledigt werden sollten, stabilisiert sich auf diese Weise nicht nur durch Liebe, sondern auch durch Nützlichkeit. Da es sich dabei allerdings um eine von Liebe berührte und getönte Nützlichkeit handelt, stellt |132| sie einen Kitt besonderer Art dar, die für die reinen Funktionssysteme unerreichbar ist.
Merkwürdigerweise wird diese besondere Zusammenarbeit zwischen Familie und anderen Institutionen, die sowohl die eine wie die anderen kräftigt, in der öffentlichen Diskussion als etwas Negatives, Anstößiges dargestellt. Als dürfe die Familie den aus ihr ausgegliederten Institutionen nicht helfen, weil nicht alle Familien gleichermaßen ihren Mitgliedern, besonders ihren Kindern, nützen können: Nicht alle haben gebildete Eltern, einen Bücherschrank, die Möglichkeiten für eine zeitaufwändige und liebevolle Pflege und hilfreiche Verbindungen zu befreundeten Personalchefs. (In der Sprache Pierre Bourdieus: Nicht alle verfügen über kulturelles und soziales Kapital.) Eine abstrakte Konzeption von Chancengleichheit und sozialer Gerechtigkeit möchte deshalb die funktionale Spezialisierung so weit treiben, dass Familien rigoros von Schulen, Unternehmen, politischen Parteien getrennt werden. Gelänge das, dann würden die verschiedenen Leistungsbereiche der Gesellschaft geschwächt; zuallererst die Familie, die, aller Nützlichkeiten enthoben, nur noch auf Liebe gestellt wäre.
Es dient der Stabilisierung der Familie, dass sie von allen Aufgaben, die sie der reinen Fortschrittslehre funktionaler Differenzierung gemäß eigentlich abgeben müsste, ein Stückchen behält. Diese Einsicht weiterführend, kann man vermuten, dass die Familie sich stärkt, sofern sie bereits ausgegliederte Aufgaben in den familialen Rahmen zurückholt. Der amerikanische Demograf Phillip Longman vermutet, dass eine Krise der Sozialversicherungen wie von selbst dazu führt, dass Familien für ihre Sicherung bei Krankheit, Arbeitslosigkeit und Alter stärker selbst aufkommen müssen, dadurch an Bedeutung gewinnen und auch wieder mehr Kinder bekommen. Er argumentiert aus einem amerikanischen Erfahrungszusammenhang, in dem die familial-private Solidarität seit jeher ein größeres Gewicht hat als die sozialstaatliche. Obwohl der Grundgedanke konsequent ist – Familien nehmen an Bedeutung zu, wenn sie zusätzliche Funktionen wieder |133| aufnehmen können –, ist es höchst zweifelhaft, ob sich das Rad wieder zurückdrehen lässt. Für Amerika gilt wie für Europa: Die Risiken der Existenz sind nicht dadurch leichter zu tragen, dass sie auf kleinste Einheiten, die Familien übergehen, und die Familien können auch nicht, wenn sie die Strategie der Risikominderung verfolgen, kurzfristig ihre Kinderzahlen erhöhen. Selbst wenn dies möglich wäre, würde es die Familien noch mehr belasten als bisher.
Qualität und Risiken der Kleinstfamilie
Qualität und Risiken einer Familie steigern sich nicht nur durch die Auslagerung von Aufgaben, bis schließlich als Kernaufgabe die Liebe übrig bleibt, sondern auch durch den Rückgang der Kinderzahl. Kinder werden zu einer Rarität. Sie erlangen eine besondere Bedeutung. Genau besehen ist es aber nicht (nur) der Wert des Individuums, der steigt, sondern der Wert der Bindungen zwischen den Familienmitgliedern. Es handelt sich um Wertsteigerung durch Singularität und Exklusivität. Ist die Bindung zwischen Mann und Frau ohnehin eine exklusive, so wird es die zwischen Eltern und Kindern noch mehr, je weniger Kinder da sind. Haben die Eltern nur ein Kind, so ist die Kind-Eltern-Beziehung eine einzigartige – mag sie noch so viele Elemente enthalten, die in allen Eltern-Kind-Beziehungen, in denen ein und derselben Kultur oder desselben sozialen Milieus gleich sind.
Haben die Eltern einen Sohn und eine Tochter, dann ist die Sohnesbeziehung einzigartig, die Tochterbeziehung aber auch, die Beziehung zwischen Schwester und Bruder ebenso. Kommt ein zweiter Sohn hinzu, dann gibt es zusätzlich eine einzigartige Beziehung zwischen den Brüdern und so weiter. Unterscheidet man noch einmal zwischen Mutter und Vater, dann
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