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Weniger sind mehr

Titel: Weniger sind mehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Otto Hondrich
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fraglich. Ihre Lebens- und Erhaltungskraft wächst. Sie lässt sich, so schmerzlich die ersten Brüche durch Trennung und Scheidung auch sein mögen, in der Regel nicht brechen. Dass die Erhaltungsmechanismen, auch wenn man sie schlicht als individuelle Kräfte des Kindes interpretiert, nicht bewusst sind und nicht bewusstwillentlich eingesetzt werden, tut ihnen keinen Abbruch. In der Trennung, in der das Kind sich nicht mehr ohne weiteres mit beiden Eltern in eins setzen kann, identifiziert es sich mit der Person, die ihm im Augenblick am wichtigsten und nächsten ist. Später schlägt die Identifikation meist um. Es wird der Elternteil und die Übereinstimmung gesucht, die man zunächst verloren, vermisst, verdrängt oder abgelehnt hat. Das Kind führt, früher oder später, auf diese Weise wieder als Familie zusammen, was ihm zunächst vorenthalten und/oder zerrissen wurde.
    Da dieser Mechanismus des unbewussten und ungewollten Familienerhalts allmählich ins öffentliche und auch juristische Bewusstsein tritt, gibt es seit einigen Jahrzehnten die Tendenz, ihn schon frühzeitig und absichtsvoll ins Spiel zu bringen: als Strategie des gemeinsamen Sorgerechts und der familiengerichtlichen Konfliktmoderation. Es ist erstaunlich, welche Erfolge mit der scheinbar paradoxen Strategie des »Familienerhalts durch Familientrennung« erzielt werden können, wenn sie mit Nachdruck und Sensibilität verfolgt wird. Einzelne Familienrichter, wie Jürgen Rudolph in Cochem, haben sich damit einen Namen gemacht. Man weiß nicht recht, ob die Soziologie mit ihren begrenzten Einsichten diesem lebenspraktischen Prozess hinterher- oder voranläuft, wenn sie die Scheidung nicht mehr als Zerstörung und Ende einer Familie, sondern als einen lang dauernden Prozess auffasst, in dem trennende und erhaltende Elemente zugleich wirken.
    |137| Familien sind zäh; zäher als steigende Scheidungsraten glauben lassen. Eine Familie aufzulösen ist der Versuch, ihre Probleme zu lösen. Was immer sich dabei tatsächlich löst oder verhärtet – das Ende der Familie bedeutet es nicht. Sie verändert ihren rechtlichen Status, verwandelt sich, entspannt oder verkrampft sich erneut, taucht unter, ist aber, den Anstrengungen aller Beteiligten zum Trotz, nicht unterzukriegen.
    Trennung und Scheidung sind Wahlakte der Partner, so wie es ihre Entschlüsse, zusammenzuziehen oder zu heiraten, waren. Die freie Partnerwahl ebenso wie die Freiheit, sich zu trennen, ist für moderne Gesellschaften ein hoher Wert. Gerade im Wahlakt der Trennung versteckt sich aber in der Regel ein Element des Ungewählten und der Unfreiheit. Gemeint ist damit nicht, dass die Gatten gleichsam schicksalhaft dem Lauf der Dinge ausgeliefert waren. Es geht vielmehr um den handfesten und elementar-soziologischen Tatbestand der Freiheitseinschränkung durch Zweisamkeit selbst. Der eine will die Trennung, die andere nicht. Oder die eine will die Trennung entschiedener als der andere. Es mag sich daraus im Laufe der Zeit eine Art Konsens einschleifen, sodass man erklärt, sich »einvernehmlich« zu trennen. Aber bei aller Gleichberechtigung und Rücksichtsrhetorik: Das ist oft das Ergebnis einer schmerzlichen Anpassung des/der einen aufgrund der Einsicht, dass ihm/ihr die Freiheit der Wahl genommen wurde – durch die Freiheit des/der anderen.
    Ob die Trennung nun einvernehmlich ist oder nicht: Sie ist ein Akt der Wahl. Was die Familie dann unterschwellig gegen die Wahlentscheidung beider aufrechterhält, ist eine gemeinsame Familien- beziehungsweise Partnerschaftsgeschichte. Was man miteinander erlebt hat, im Schönen wie im Schlimmen, bindet. Es ist durch die Familiengründung in freier Wahl eine gemeinsame Herkunft gegründet worden. Eine Wahlbindung hat sich in eine Herkunftsbindung verwandelt. Die versuchte Auflösung dieser zur Herkunftsbindung gewordenen Wahlbindung durch einen erneuten Wahlakt schmerzt, weil jetzt Herkunft gegen Wahl steht.
    |138| Die Familie stabilisiert sich selbst
    Der Konflikt zwischen Herkunftsbindung und Wahlentscheidung vertieft und verschärft sich, wenn Kinder da sind. Durch gemeinsame Kinder hat sich das Paar eine personifizierte gemeinsame Zukunft geschaffen. Aus der Sicht der Kinder ist dies eine Herkunftsbindung, in die sie hineingeboren wurden. Sie war nicht wählbar und wird es nie sein. Dass man seine Eltern »gut« oder »schlecht« gewählt habe, bleibt eine ewige, unaufhebbare Ironie. Die Geburt von Kindern verschafft einer Familie also

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