Weniger sind mehr
vermehren sich die einzigartigen Beziehungen zwischen den Generationen. Mit der Vermehrung der innerfamilialen Bindungen entsteht und |134| verfestigt sich ein Netz. Seine Haltekraft beruht auf der Fülle der Fäden (Bindungen). Die Wahrscheinlichkeit, dass jeder einzelne Faden besonders innig-intensiv und haltbar ist, nimmt allerdings mit der Zahl der Fäden ab. Je weniger Personen und Bindungen, desto mehr liegt die Intensität und Haltekraft bei den einzelnen Bindungen und weniger bei dem Netzwerk, das ja mangels Masse nur klein sein kann.
Die Kleinstfamilie mit nur drei Personen enthält besonders starke Einzelbindungen. So gesehen ist ihre Bestandskraft hoch. Andererseits ist sie aber auch besonders gefährdet, weil durch den Verlust schon eines einzigen Familienmitglieds die Familie an den Rand der Auflösung gerät. Auch eine zweiköpfige Familie kann weiterbestehen, indem sie dem verlorenen Familienmitglied einen besonderen Platz einräumt und es symbolisch am Familienleben weiter teilnehmen lässt. Dies kann aber auch zu einer besonderen Belastung führen. So verspüren es Eltern, die das einzige Kind verloren haben; ähnlich Vater und Kind, wenn die Mutter gestorben ist oder Kind und Mutter nach dem Tod des Vaters. Das Risiko des vorzeitigen Todes ist zwar in der modernen Gesellschaft statistisch gesehen geringer geworden. Aber eine Beunruhigung, Beängstigung und Schwankung wird die auf ein quantitatives Minimum reduzierte Familie eher aufweisen als die größere Familie. Die Steigerung der emotionalen Intensität führt, in der Kleinstfamilie, zu einer Qualität, die in hohem Maße als prekär empfunden wird.
Die Verkleinerung der Familie durch vorzeitigen Tod ist seltener geworden. Trennungen und Scheidungen treten dem gegenüber in den Vordergrund. Dabei zerreißt nun der Zusammenhang zwischen Verkleinerung und Qualitätssteigerung vollends. Denn mögen sich die Eltern auch in aller Vernunft und Rücksichtnahme einvernehmlich trennen, das Kind, das sich als Teil von beiden empfindet und die Eltern als ein Ganzes verkörpert und zum Teil seiner selbst macht, wird durch das Zerreißen des Ganzen im Inneren selbst zerrissen. Aus einem Ungeteilten – Individuum – wird |135| es zu etwas Geteiltem. Und dies nicht aufgrund eigener Entwicklung und Entscheidung, sondern durch die Entscheidung der Eltern, auf die es keinen Einfluss hat. Die Liebe der Eltern, die es als etwas Einheitliches und Ganzheitliches empfindet und erwidert – Familienliebe eben –, kehrt sich plötzlich um zu etwas Fremdem, bedrohlich Trennendem.
Im Streit der Eltern um das Sorge- und Erziehungsrecht für das Kind kommt dies nur unzulänglich zum Ausdruck. Die Eltern interpretieren den Kampf ums Kind als Ausdruck ihrer je individuellen Liebe. Tatsächlich werden sie aber in dem Machtkampf ums Kind zu fremden Mächten für das Kind, die die Liebe zum Kind ebenso wie die Liebe des Kindes zu den Eltern zerstören. Liebe verwandelt sich in Macht; Familienliebe in Machtbestrebungen der Individuen.
Das Kind kann diesen familialen Transformationsprozess von Liebe in Macht nur als Ohnmacht erleben. Das, was wir gemeinhin auch in intakten Familien als Macht der Eltern gegenüber dem Kind bezeichnen, ist ja eine Konstruktion, die wir aus der Erwachsenenwelt in die Familie übertragen. In der Familie als einer Ganzheit wird Macht aufgehoben durch Liebe – oder sagen wir besser: durch die Macht der Gefühle. Denn die Gefühlsintensität der Bindungen, die wir als Liebe bezeichnen, wächst nicht ohne Gegenbewegungen und Gegenwertungen, also nicht ohne Ambivalenzen. In der Familie gibt es Liebe und Hass – und ein weites Feld dazwischen. Doch auch die ambivalenten, von Zorn und Ablehnung durchsetzten Familiengefühle haben eine bindende und erhaltende Kraft. Um die Selbsterhaltung dieser Kraft und der Institution Familie geht es hier – nicht um das Wohl und Weh des Einzelnen. Kinder können durch die Scheidung der Eltern um einen Teil ihres individuellen Glücks und ihrer frühen Identität gebracht werden. Das bedeutet aber nicht, das die Familie als Institution gefährdet sei.
Um die Halte- und Stabilisierungskräfte der Institution geht es uns noch immer. Werden sie in der Verkleinerung der Familie |136| durch Scheidungen und Geburtenrückgang nicht aufgezehrt? Prüfen wir die Bewegungen, die dem entgegenwirken.
Die Kinder selbst werden oft als das berühmte schwächste Glied in der Kette bezeichnet. Ob sie es tatsächlich sind, ist
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