Weniger sind mehr
Zukunftsbindungen, die zugleich Herkunftsbindungen sind. Sie setzen die bestehenden Bindungen zu vorangegangenen Generationen fort.
Es ist gerade dieser nicht gewählte Teil der Familienbindungen, die Bindung zwischen den Generationen, der die Familie erhält, wenn die durch Partnerwahl entstandene Familie von denselben Partnern wieder abgewählt wird. Denn wohin wenden sich Mann und Frau, wenn sie sich als Paar trennen? Manchmal gibt es bereits eine neue Bindung und diese wartet ihrerseits nur darauf, gewählt zu werden. Das ist jedoch eher die Ausnahme als die Regel.
Um das Vakuum zu füllen, wendet man sich vielmehr an Geschwister, Cousins und Cousinen, Eltern, Tanten, Onkel, Großeltern, kurz: an nicht gewählte Herkunftsbindungen. Auch wenn wir uns mit den Eltern zerstritten, mit Geschwistern auseinandergelebt haben: Die Bindungen sind altvertraut, im Ruhe- oder Wartestand, und lassen sich in der Regel wieder aktivieren. Selbst wenn ganz neue Bindungen freier Wahl verfügbar wären, haben Herkunftsbindungen ihnen gegenüber den Qualitätsvorsprung des Schon-da-Seins, der vorgängigen, nicht gewählten, nicht wählbaren, aber deshalb auch nicht abwählbaren Zugehörigkeit. Noch stärker trifft dies gegenüber den eigenen Kindern zu. Deswegen wird bei Trennungen über diese Eltern-Kind-Bindungen besonders heftig gestritten.
Während die Eltern ihre Wahlbindung aus freien Stücken lösen, kämpfen sie erbittert um die Bindung zum Kind. (Wir wissen |139| allerdings nicht, wie viele die Partnerschaft aufrechterhalten, gerade um sich selbst und dem Kind diesen Kampf zu ersparen.) Die Bindung zwischen den Generationen, als Herkunftsbindung zurück zu den Eltern und voran zu eigenen Kindern, scheint umso wichtiger zu werden, je unwichtiger dem Paar die Bindung seiner eigenen Wahl wird. Die aufgegebenen Wahlbindungen verwandeln sich in Herkunftsbindungen und stärken diese.
Dieser Prozess verläuft entgegengesetzt zu den Vorurteilen einer Individualisierungstheorie, die die moderne Sozialwelt auf einer Einbahnstraße von Herkunfts- zu Wahlbindungen wähnt. In Trennungen und Scheidungen schlägt dieser Prozess um. Er treibt Wahlbindungen aus den Familien heraus und verstärkt und verlängert stattdessen Herkunftsbindungen. Verlängern ist das treffende Wort. Denn durch steigende Langlebigkeit wird Familie mehr und mehr über vier Generationen hinweg erlebt. Von den erwähnten »Bohnenstangenfamilien« sprechen die einen. Das Bild einer auf dem Kopf stehenden Tanne ist für die Zukunft vielleicht noch treffender: Acht Urgroßeltern, vier Großeltern, zwei Eltern, ein Kind. So zieht sich die Familie in die Länge und, nach hinten gewandt, in die Breite. Das Bild ist – noch – idealtypisch überzeichnet. Die Wirklichkeit ist ihm aber auf den Fersen.
Die empirischen Untersuchungen zeigen enge Verbindungen zwischen den Generationen. Entgegen den Vorurteilen von der zerfallenden und verstreuten Familie sind Familienbande eher wichtiger und dichter als noch vor einem halben Jahrhundert. Ältere Menschen fühlen sich weniger einsam. 15 90 Prozent von ihnen wohnen nicht mehr als zwei Stunden von ihren erwachsenen Kindern entfernt, 70 Prozent stehen mit ihnen mehrmals pro Woche in Kontakt. 16
Die gegenseitigen Hilfsnetze sind engmaschig. Die Älteren unterstützen die Jüngeren eher durch Geschenke, finanziell, auch beim Hausbau und bei der Hausarbeit, bei der Versorgung der Kinder. Besonders in Notfällen können sich viele berufstätige Mütter darauf verlassen, dass die Großeltern einspringen. Umgekehrt |140| hilft die mittlere und jüngere Generation den Älteren im Krankheits- und Pflegefall, aber auch bei besonderen Unternehmungen. Man berät sich im Alltag. Man feiert gemeinsam. Man zankt sich – selten. Man geht Konflikten aus dem Weg. Der Wohlstand macht’s möglich: Man kann in der Nähe leben, verbunden auf kurze Distanz, ohne in derselben Wohnung oder demselben Haus zu dicht zusammengepresst zu sein. Erst mit höherer Bildung und prestigeträchtigen Berufen vergrößert sich die Wohnentfernung zwischen den Generationen und damit die Entfremdung. Das geläufige Muster wird aber doch durch räumliche und soziale Nähe bei getrennten Haushalten bestimmt. So bleiben die Herkunftsfamilien als Liebes- und Unterstützungsverbände bestehen, auch wenn die Haushalte sich voneinander lösen, kleiner werden und vermehren.
Dass Familien ohne eigenen leiblichen Nachwuchs auf entferntere Herkunftsbindungen zurückgreifen
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