Weniger sind mehr
Nachbarn in der deutschen Kultur noch nicht auskennen. Zweitens: Wird der direkte Übergang von einer Kultur in die andere unvermittelt zu schwierig, wächst den Zwischenkulturen oder ethnischen Milieus eine vermittelnde Funktion zu. Zahllose Mittelsmänner und -frauen werden informal zu »Integrationsagenten«: Für nachkommende und wenig gewandte Landsleute kaufen sie ein, setzen Briefe auf, begleiten sie zu Ärzten und Behörden, helfen ihnen bei der Arbeitssuche ...
In den unzähligen Berührungen und Kontakten zwischen den Kulturen, die sich dabei ergeben, lässt sich die Vorstellung von einer akkulturationsfeindlichen Parallelgesellschaft nicht aufrechterhalten. Akkulturation findet unweigerlich statt. Aber im Gegensatz zur politisch verordneten staatsbürgerlichen Integration kommt die Integration durch ethnische Milieus ohne kostspielige Sprachkurse, Verwaltungsapparate, Ordnungs- und Polizeikräfte, Integrationsbeauftragte aus. Deren Offizialfunktionen erledigen – oder ergänzen – die ethnischen Milieus als selbststeuernde Systeme in Eigenregie.
Dabei wird, drittens, deutlich, dass die ethnischen Milieus alles andere sind als Brückenköpfe oder Bollwerke der türkischen Herkunftskultur. Über ihre Vermittlungsfunktion werden sie zu selbststeuernden Systemen mit Erhaltungsinteressen eigener Art – weder identisch mit den Interessen des türkischen Mutterlandes noch mit denen der deutschen Wahlheimat.
|184| Dies führt zu einer vierten Einsicht. Akkulturation, die entweder unvermittelt durch den Druck der aufnehmenden Mehrheitskultur auf die Einwanderer erfolgt oder aber, in der Regel, durch Zwischenkulturen vermittelt wird, ist kein Prozess, in dem sich nur die eine Seite ändert oder anpasst. Jede Kultur, mag sie mehrheitlich und durch die Präferenz fürs Eigene noch so gut gefestigt sein, ist kein monolithischer Block. Sie ist, durch den Austausch mit anderen Kulturen nach außen und im Inneren, immer in Bewegung.
Akkulturation nicht als einseitige Übernahme einer Kultur durch eine andere, sondern als gegenseitiger Austausch: Das ist oft schwer zu begreifen. Der Augenschein spricht oft zunächst dagegen. Gerade wenn die aufnehmende Kultur selbst nur noch wenig Kinder zur Welt bringt, die Einwanderer aber die größeren Kinderzahlen aufzubieten haben, kommt es an manchen Stellen zu einer Verschiebung der Mehrheitsverhältnisse – scheinbar mit der Folge, dass die aufnehmende Kultur von der einwandernden aufgesogen wird und nicht umgekehrt.
In einer von der katholischen Kirche getragenen schottischen Privatschule, so konnte man im März 2006 in den Zeitungen lesen, waren die christlichen Schüler im Verhältnis zu den islamischen zu einer verschwindend kleinen Minderheit geschrumpft. Folgerichtig bot die islamische Gemeinde an, die Trägerschaft der Schule zu übernehmen – große Aufregung bei den katholischen Schotten, die sich ansonsten ihrer Offenheit und Liberalität gegenüber islamischen Einwanderern rühmen. Aber wenn es nun so käme, wie die islamische Gemeinde vorschlägt? Sie müsste die Schule tatsächlich im gleichen liberalen Geist wie die Schotten fortführen, selbstverständlich unter peinlichster Beachtung der dort in demokratischer Tradition gewachsenen Verfahren und Rechtsregeln und ebenso selbstverständlich einem Curriculum und pädagogischen Standards folgend, über die die schottische Schulaufsichtsbehörde wacht. Auch wo eine Minderheit in kleinem Raum zur Mehrheit wird, bleibt sie der Macht der Mehrheitskultur im Hintergrund unterworfen. Was |185| auf den ersten Blick wie ein Sieg islamischer Kultur aussieht, kann sich bei näherem Hinsehen als ein Sieg christlich-liberaler Kultur entpuppen. Es wäre ein Sieg nicht mit Waffengeklirre, sondern durch die List unbewusster Vernunft. Eine Kultur, die selbst nur noch wenig Nachkommen hervorbringt, sucht sich Trägerschaft für ihre Werte und Bildungsinstitutionen aus einer anderen Kultur, der sie einen Platz in sich selbst einräumt.
Hierzulande lässt sich ein ähnliches Spannungsverhältnis beobachten. Moscheen in deutschen Dörfern, islamischer Religionsunterricht in deutschen Schulen: Dieses Vordringen des Islam wird allenthalben als ein Erfolg im Kampf der Kulturen auf deutschem Boden interpretiert. Was derselbe Vorgang an Erfolgen für die deutsche Kultur birgt, bleibt weitgehend unerkannt. Mit Genehmigungsverfahren, Bauauflagen, Aufsichts- und Kontrollkompetenzen, Lehrerausbildungsprogrammen,
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