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Weniger sind mehr

Titel: Weniger sind mehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Otto Hondrich
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wäre es uns gar nicht möglich, die persönlichen Eigenarten, Reflexionen, Zugehörigkeiten auszubilden, die wir unserer Individualität zuschreiben.
    Die dritte soziokulturelle Voraussetzung für die Entwicklung von Individualität ist der Fall der Fertilitätsrate. Wäre nämlich die Fertilitätsrate auf dem Stand früherer Jahrhunderte bei sechs, acht oder zehn Kindern verharrt, dann würde dies zusammen mit der Langlebigkeit die späteren Gesellschaften auf begrenzten |204| Territorien hoffnungslos übervölkern. An die Entfaltung freier Individualität wäre nicht zu denken. Der Prozess der Individuation lässt sich also nicht ohne die demografische Umstellung des Reproduktionsmodus von einer r-Strategie – viele, riskant und kurz lebende Nachkommen – auf eine K-Strategie – weniger, sicherer und länger lebender Nachwuchs – denken. 2
    Gemessen an der mehr als 500 000-jährigen Geschichte der Menschheit sind die 5 000 oder vielleicht nur 2 000 Jahre, in denen einzelne Menschen sich als ein eigenes »Ich« mit individuellem Glück und Leid, individuellem Nutzen und Nachteilen empfinden – im Kontrast zu einem bis dahin eher dumpf vorherrschenden »Wir« –, eine kurze Zeit. Seither erst macht es Sinn, vom Glück des Einzelnen zu sprechen, im Unterschied oder manchmal sogar im Gegensatz zum Wohl des gemeinschaftlichen Ganzen. Das Ich mit einem eigenen Namen, eigenen Lebenslauf, eigenen Vorfahren, eigenen Nachkommen setzt eine gewisse Lebenslänge, ein eigenes Alter und Altwerden voraus, damit es seine Eigenheiten entwickeln und an sich beobachten kann. Das Altwerden wiederum muss von einer Einschränkung der Geburtenzahl beschränkt sein, weil ansonsten auf gegebenem Raum eine Bevölkerung ausufern würde.
    Diese Selbstregulierung der Bevölkerung durch Anpassung der Geburtenzahl an Zahl, Lebensdauer, Lebensraum und Lebensmittel der Lebewesen einer Spezies ist ein quasi naturhafter Vorgang. Er ist den Populationsbiologen wohl bekannt. 3 So unbeabsichtigt, wie er als biologischer Prozess abläuft, so unbeabsichtigt geht er für die Spezies Mensch in einen soziokulturellen Prozess über. Produktivitätssteigerung, Urbanisierung, die Trennung von Religion, Wissenschaft und Politik und viele weitere Systembildungen und Institutionalisierungen spielen dabei eine Rolle. Über vielfache Mitgliedschaften und zugleich Distanzierungen wird der Einzelne in diesen Prozess hineingezogen und erfährt sich in einer Eigenart, die ihn von allen seinen Artgenossen unterscheidet. Zugespitzt kann man sagen, dass es der Geburtenrückgang ist, dem wir |205| die »Geburt des Individuums« mit je eigenen Zugehörigkeiten, Emotionen und rationalen Kalkulationen verdanken.
    Geburtenrückgang als individuelles Erlebnis und Schicksal
    Mit der Geburt des Individuums tritt ein neues Bezugs- beziehungsweise Steuerungssystem des sozialen Lebens auf den Plan: das Individuum selbst. Es begibt sich sozusagen in Konkurrenz zu den bisher behandelten sozialen Steuerungssystemen. Es entwickelt eine eigene individuelle Wahrnehmung, Wertung und Neigung zur Selbststabilisierung – oft in Konflikt zur Wahrnehmung, Wertung und Selbststabilisierung der sozialen Systeme. Alles, was im Zusammenleben geschieht – ob Arbeit oder Feiern, Verbrüderung oder Kriegszug, Geburt oder Tod –, bekommt nun neben der kollektiven auch eine individuelle Bedeutung. Geburtenrückgang ist eine kollektive Größe. Ein Individuum kann keinen Geburtenrückgang verzeichnen. Der Geburtenrückgang in einer Gesellschaft wird aber individuell erfahrbar. Diese Erfahrung dehnt sich allerdings über einen langen Zeitraum hinweg und ist deshalb eine so allmähliche, das sie fast unmerklich gemacht und kaum bewusst reflektiert wird. Muss man sie deshalb – gar noch dramatisierend – ins öffentliche Bewusstsein heben? Jedenfalls gehört es zu den Aufgaben der Sozialwissenschaften, auf gesellschaftliche Veränderungen hinzuweisen, auch und gerade wenn sie den beteiligten Individuen nicht gegenwärtig sind.
    Der Fall der Geburtenrate, der in der Regel für jede Nation gesondert dokumentiert wird, bedeutet, dass in diesem nationalen Rahmen die jeweils folgende Generation kleiner wird als die vorangegangene; ebenso schrumpft sie im Vergleich zur selben Generation in den Nationen, die keinen oder weniger Geburtenrückgang haben. Individuen können diese Veränderungen gar nicht wahrnehmen. Sie verfügen nicht über vergleichende Statistiken und |206| nicht über ein komparatives

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