Weniger sind mehr
Lebenslauf in der Generation seiner Eltern oder Großeltern? (Es versteht sich von selbst, dass hier die Unterschiede aufgrund von Kriegen, Krankheiten, persönlichen Schicksalsschlägen und anderen ungewöhnlichen Ereignissen außer Betracht bleiben.)
Wenn in der modernen Welt, in Goethes Worten, das höchste Glück der Erdenkinder die Persönlichkeit ist, so können sie diese ihre Individualität, in der alle ihre Bindungen und Möglichkeiten zusammenlaufen, doch erst als Heranwachsende und Erwachsene bewusst erleben. Das
Neugeborene
wächst in sie hinein, ohne es zu wissen. Es kann nicht ahnen, dass ihm weniger Risiken und mehr Glück winken als den Neugeborenen früherer Zeiten. Die Statistiker erkennen es an seiner Stelle – und bringen es auf die schlichten Maßzahlen durchschnittlicher Lebenserwartung von heute rund 80 Jahren. Vor anderthalb Jahrhunderten war die Lebenserwartung eines Menschen nur halb so lang. Für die gewonnenen Jahre, die auch einen Gewinn an Individualität verheißen, ist die Individualität selbst in keiner Weise verantwortlich. Die bessere medizinische Versorgung, die gesteigerte Hygiene, die regelmäßige Ernährung, die Zuwendungen des Sozialstaates, die geringere Kindersterblichkeit und weiteres – das sind alles kollektive Erscheinungen einer industriellen und postindustriellen |211| Kultur. Individuell ist nur das Glück, in sie hineingeboren zu werden, und als Gegenstück dazu das Schicksal derjenigen, die in den Armuts- und Aids-Gürteln Afrikas zur Welt kommen.
Zum Glück des Neugeborenen hier und heute gehört es auch, dass von Anfang an seine Eltern auch an
seine
Individualität denken und nicht nur an die eigene. Eltern dürfen im Normenkäfig der modernen Gesellschaft eigene Entfaltungsbestrebungen, auch außerhalb der Elternschaft haben. Aber sie müssen doch immer auch die Selbstentfaltung des Kindes mitdenken und in ihre Verantwortung nehmen. Für die Eltern früherer Zeiten lagen die Dinge anders. Sie dachten notgedrungen eher in Notwendigkeiten als in Entfaltungsmöglichkeiten.
Wir wissen nicht, wie und wie früh das Kleinkind erlebt, dass es nicht nur als notwendig für die Kontinuität von Familie und Sippe betrachtet wird, sondern als ein Wertwesen eigener, individueller Art. Wir wissen auch nicht, ob und in welchem Maße diese verwandelte Ansicht des Kindes seine Ansicht von ihm selbst prägt und sein gesellschaftliches Ansehen hebt. Es ist aber anzunehmen, dass ihm weniger Zwang angetan wird als früher. Seit langem ist es ein Thema der Pädagogik, die Zwanghaftigkeiten der Erziehung zu lockern und aufzuheben. 5 Unter diesem Anspruch werden Zwang und Gewalt in der Behandlung von Kindern immer schärfer wahrgenommen. Das führt zu der sozio-optischen Täuschung, dass wir immer mehr Gewalt wittern, je mehr diese auf dem Rückzug ist. Das Ganze geschieht vor dem Hintergrund einer ungeheuren Werterhöhung des einzelnen (individuellen) Kindes, verursacht durch den Fall der Geburtenrate. Auch wenn es uns widerstrebt.
Es ist wichtig zu begreifen, dass es um den Zusammenhang zwischen Wert und Zahl der Kinder geht. Es ist die Verringerung der Zahl, die den Wert steigert. Zwar gibt es auch andere Gründe dafür, dass Kinder – immer in der sozialen Beziehung zu den Eltern und/oder der weiteren Gesellschaft – im Wert steigen oder fallen: Die Eltern selbst und die weitere Familie können mehr oder |212| weniger kinderlieb sein; Wirtschaft, soziale Sicherungssysteme und Kulturen können sich so entwickeln, dass Kinder als Arbeitskräfte, Versorger und Kulturträger weniger gebraucht werden; ihr Nutz- oder Notwendigkeitswert sinkt dann, während ihr emotionaler Wert steigt.
Aber unabhängig von solchen Wertänderungs- und Wertverschiebungsprozessen ist und bleibt die Zahl der Kinder ein eigener wertbegründender Faktor, der in allen Kulturen und allen sozialen Beziehungen wirkt. Am einfachsten lässt sich das in der Denkweise der Ökonomen ausdrücken, auch wenn es sich nicht um ein ökonomisches Phänomen im engeren Sinn handelt. Die Geburt des ersten Kindes, also die Differenz zwischen keinem und einem Kind, macht einen ungeheuren Wertunterschied aus. Die Wertsprünge setzen sich fort vom ersten zum zweiten, vom zweiten zum dritten, vom dritten zum vierten Kind und so weiter. Aber dabei wirkt unweigerlich das, was die Ökonomen das Gesetz vom abnehmenden Grenznutzen oder Grenzertrag nennen: Jedes weitere Kind, obwohl als Individuum noch wertvoll und auch den Wert der
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