Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Weniger sind mehr

Titel: Weniger sind mehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Otto Hondrich
Vom Netzwerk:
Sensorium der Alltagsbeobachtung, das ihnen zu sagen erlauben würde: Meine Generation ist kleiner geworden, als die meiner Eltern es war; oder: Meine Generation ist in Deutschland stärker geschrumpft als in Frankreich.
    Gleichwohl erleben Individuen den Geburtenrückgang am eigenen Leib: Weniger von ihnen als früher werden Eltern. Und in Deutschland wird ein kleinerer Teil von ihnen Eltern als in Irland oder Indien. Wenn sie Eltern werden, bekommen sie im Durchschnitt doch weniger Kinder als ihre eigenen Eltern. Aber häufiger als ihre eigenen Eltern werden sie – weil sie länger leben – Großeltern und Urgroßeltern, wenn auch über eine geringere Zahl von Enkeln und Urenkeln. Chinesische Demografen veranschaulichen diese Tendenz durch das Bild einer auf dem Kopf stehenden Pyramide: Das Einzelkind ganz unten hat zwei Eltern über sich, vier Großeltern und acht Urgroßeltern. Oder: Insgesamt 14 Personen müssen sich in ihrer Kinderliebe ein einziges Kind teilen.
    Dass es sich dabei nicht um chinesische Visionen und Zahlenspielereien handelt, sondern um erlebten Alltag auch in der deutschen Gesellschaft, können ältere Grundschullehrer berichten, die seit Jahren an Schulaufnahmefeiern teilnehmen und beobachten, wie die Zahl der Mitfeiernden von Jahr zu Jahr steigt, auch wenn die Zahl der Erstklässler gleich bleibt oder zurückgeht. Hinter den 20 Kindern, deren erster Schultag gefeiert wird, drängen sich 100 und mehr Erwachsene, eben die Eltern, Großeltern, Tanten und Onkel, die den kostbaren, oft einzigen Spross der Familie ihrer Liebe und Unterstützung versichern wollen. Geburtenrückgang bedeutet auch, dass mehr Menschen keine oder weniger Geschwister haben als in den Generationen davor. Es bedeutet auch, dass Menschen ihr ganzes Leben lang mehr ältere und weniger gleichaltrige und jüngere Menschen um sich haben als ihre Vorfahren oder als ihre Generationsgenossen in geburtenreichen Gesellschaften.
    Man kann es auch so sagen: Geburtenrückgang und Langlebigkeit führen dazu, dass sich die Mehrheitsverhältnisse zwischen Älteren |207| und Jüngeren umkehren. Die junge Generation stellte früher in allen und stellt heute noch in den meisten Gesellschaften der Welt den Großteil der Bevölkerung. Als Tourist kann man sehen und spüren, dass heute in Ländern wie Ägypten und Pakistan die unter 20-Jährigen fast die Hälfte der Bevölkerung ausmachen; das bringt eine für uns Westler ungewohnte Unruhe in die Gesellschaften. In Deutschland dagegen wird der Anteil derjenigen, die jünger als 20 sind, bald nur noch 15 Prozent betragen.
    Welche Folgen hat die Umkehrung des Mehrheiten-Minderheiten-Verhältnisses zwischen Jung und Alt? Eine populäre These besagt, dass der Generationenkonflikt angeheizt werde: Die Minderheit der Jugendlichen verwahre sich dagegen, die immer größere Last der Alten-Mehrheit zu tragen. Die These, so plausibel sie auf Anhieb erscheint, ist kurzschlüssig und mehrfach falsch. Die ältere Generation hinterlässt den Jüngeren ja nicht nur eine größere Alten-»Last«, sondern auch mehr Mittel – Kapital, Bildung, wissenschaftliches Wissen, Lernen durch Scheitern und Erfolg und Ähnliches –, um die anstehenden Probleme zu lösen. Außerdem werden die Jüngeren selbst unweigerlich älter und würden sich mit einer Revolte gegen die Alten ins eigene Fleisch schneiden. Drittens schließlich stammen Alt und Jung aus denselben Familien und aus derselben Kultur: Sie sind einander in Liebe verbunden und empfinden, insbesondere angesichts fremder Kulturen, mehr Gemeinsames als Trennendes. Einen »Krieg« der Generationen, der über die integrativ notwendigen Normalkonflikte hinausginge, hat es nirgends gegeben. Durch den Geburtenrückgang würde er unwahrscheinlicher denn je.
    Eine andere pessimistische These sieht in der neuen Minderheitenlage der Jugendlichen eine Quelle von Ausgrenzung und Desintegration. In Wirklichkeit entwickeln sich die Dinge genau entgegengesetzt: Die in die Minderheit geratene Jugend wird stärker in die Mehrheit der Älteren einbezogen. Sie ist eher zu viel als zu wenig in die Alten-Gesellschaft integriert. Das geschieht allen Minderheiten so, sie werden stärker in die Mehrheit einbegriffen |208| als umgekehrt die Mehrheit in die Minderheiten. Voraussetzung ist nur, dass Mehrheit und Minderheiten nicht von vornherein durch eine Art von eisernem Vorhang getrennt sind wie zum Beispiel manche ethnischen Gruppen, sondern dass sie miteinander persönliche

Weitere Kostenlose Bücher