Weniger sind mehr
Beziehungen unterhalten. Genau das ist zwischen Generationen in besonderem Maße der Fall.
Ein konstruiertes, aber lebensnahes Beispiel mag veranschaulichen, wie der Geburtenrückgang das Gewicht der Beziehungen zwischen Alt und Jung verlagert, ohne dass die Beziehungen selbst Schaden nehmen. Vor 100 Jahren zogen Eltern im Schnitt vier Kinder groß. Wenn Vater und Mutter jeweils mit jedem Kind einmal am Tag sprachen, dann hatte jede Person aus der Elterngeneration vier Kontakte oder Austauschbeziehungen zur jungen Generation. Umgekehrt bedeutete ein und derselbe Vorgang aus der Sicht der jüngeren Generation, dass jedes Kind nur zwei, also nur halb so viele Kontakte oder Austauschbeziehungen zur älteren Generation hatte. Wir können es auch so sagen: Die individuellen Beziehungen zwischen den Generationen innerhalb ein und derselben Familie waren ungleich verteilt: vier Beziehungen pro Elternteil – und nur zwei pro Kind.
Machen wir den Sprung in die Gegenwart. Heute fallen auf zwei Eltern hierzulande weniger als 1,5 Kinder – sagen wir der Einfachheit halber: ein Kind. Wenn jedes Elternteil mit ihm einmal am Tag spricht, dann gibt es für Vater und Mutter je eine Austauschbeziehung zur jungen Generation, umgekehrt aber, aus der jungen Generation heraus, zwei Beziehungen zur älteren. Die ungleiche Verteilung der Beziehungen zwischen Alt und Jung hat sich gedreht. Im Laufe der Zeit ist die Elterngeneration, was ihre Beziehungen zu den Kindern angeht, verarmt. Die Kindergeneration dagegen wird beziehungsreicher in die Erwachsenenwelt eingebunden.
Das Ungleichgewicht in den Beziehungen zwischen Jungen und Erwachsenen ist nicht dadurch aufzuheben, dass letztere nun mehr Kontakte zu den Jungen suchen oder die Jungen mehr |209| Kontakte verweigern. Das Ungleichgewicht ist nicht in den Absichten oder der Macht von Individuen begründet, sondern allein in ihrem Zahlenverhältnis. Es könnte deshalb nur durch eine Veränderung von Zahlen – in diesem Fall Kinderzahlen – geändert werden.
Weitet man den Blick über die kinderarmen westlichen Gesellschaften hinaus und bezieht die kinderreichen Gesellschaften, also die Weltbevölkerung insgesamt ein, dann ändert sich das Bild. Weltweit ist Jugend keine Minderheit, sondern stellt die Mehrheit der Weltbevölkerung. Demografisch gesehen zerfällt die Weltgesellschaft in zwei völlig unterschiedliche Gesellschaftstypen – mit vielen Übergängen: In den reproduktiven Gesellschaften stellen die Alten eine Minderheit, die stark in die Mehrheitswelt der Jugend einbezogen ist. In den produktiven Gesellschaften wird die Jugend zur Minderheit und unterhält notgedrungen mehr Beziehungen zur Erwachsenenwelt als umgekehrt. Ganz im Widerspruch zu unseren Vorurteilen legt diese Analyse nahe, dass in den modernen Gesellschaften Jugend nicht gesellschaftlich ausgegrenzt, sondern über die Maßen einbezogen, ja überintegriert ist.
So stark ist die einbeziehende Kraft der gesellschaftlichen Mehrheit, dass die Jungen sich gegen die Vereinnahmung wehren: Sie richten die Grenzen eigener Jugendkulturen auf, hinter denen sie untereinander kommunizieren können und wenigstens zeitweise vor den Beziehungsansprüchen der Überzahl der Älteren sicher sind. Gerade weil sie heute viel mehr mit Älteren umgehen müssen als die Generationen vor ihnen, gewinnen die Jungen, aufgrund größerer sozialer Nähe und Reibungsflächen mit den Älteren, ein feineres Gespür für die Unähnlichkeiten zwischen den Generationen. In schneller Folge und nicht ohne Geschäftstüchtigkeit thematisieren sie diese Unähnlichkeiten und finden auf dem Markt der Selbstdeutungen dafür reißenden Absatz: Auf die Protestgeneration der 68er folgt die Generation Golf und nun die Generation Praktikum. 4
|210| Die Selbststeuerung des Individuums
Wie wirken sich die kollektiven Zahlenverschiebungen, die hinter dem Begriff des Geburtenrückgangs stehen, auf das Individuum aus? Fördern oder hemmen sie seine weitere Entfaltung? Geraten sie ihm zum Glück oder Unglück? Überkommen sie es schicksalhaft, oder kann das Individuum sie aus freien Stücken mitgestalten? Wie steuert es, selbsterhaltend, seine Individualität durch die gesellschaftlichen Verhältnisse, die ihm durch den Fall der Geburtenrate vorgegeben sind? Dies soll anhand der typisierten Biografie eines Menschen in einer Gesellschaft mit niedriger und/ oder fallender Geburtenrate durchgespielt werden. Was ist für ihn anders im Vergleich zu einem typischen
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