Weniger sind mehr
Gesamtkinderzahl steigernd, liefert einen Wertzuwachs, der nicht mehr ganz so groß ist wie der Wertzuwachs des jeweils vorangehenden Kindes.
Das hört sich kühl und mechanistisch an. Es mag aber jede und jeder für sich sowie für jede Kultur selbst prüfen, wie groß die Bedeutung des ersten Kindes ist, das in eine Familie geboren wird, im Vergleich zur Bedeutung des fünften Kindes oder im Vergleich zur Bedeutung des ersten und vielleicht einzigen Kindes, das ein Paar bekommt. Dass das erste Kind noch wertvoller wird, wenn es, wie heute üblich, erst spät zur Welt kommt und die Eltern kaum noch weitere Kinder bekommen können, versteht sich von selbst. Der Zusammenhang zwischen steigendem Wert und fallender Zahl von Kindern gilt sowohl in kinderreichen Kulturen, wo Kinder als nützlich und notwendig zum Lebensunterhalt angesehen werden, als auch in wohlhabenden und kinderarmen Kulturen, die in ihren Kindern weniger Nutzen als Liebe und Selbstwert erkennen.
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Kindheit
und
Jugend
in kinderarmen Gesellschaften werden für die Betroffenen oft als Überlastungen dargestellt: Zu viele Ältere hätten sie zu versorgen, zu viele Beziehungsansprüche seien zu erwidern, zu viele Gefühle aus der älteren Generation stürmten auf sie ein. Aber was heißt hier »zu viel«? Dazu gibt es kein empirisch gesichertes Wissen. Eine einfache Überlegung mag helfen: Als individuelle Organismen sind Menschen mit Abwehrmechanismen ausgestattet. Sie können abwehren, sie können sich abwenden, sie können sich auch abschotten. Die Jugendkulturen mit ihrer lauten und abschreckenden Musik haben genau diese Funktion: die Älteren mit ihren Betulichkeiten, sorgenvollen Zuwendungen und ihrem altbackenen Unterhaltungsgeschmack fernzuhalten.
Was aber, wenn der Fall der Geburtenrate gerade die Gruppe der Gleichaltrigen dezimiert und die Zahl der Geschwister bis auf null herabdrückt? Eine Reihe von Psychologen, besonders aber von Laienpsychologen, sieht gerade darin einen für das Individuum nicht wiedergutzumachenden Verlust. Man entdeckt die Einzigartigkeit der geschwisterlichen Sozialbeziehung, die mit ihrer Spannung zwischen aufgezwungener Nähe und selbst erkämpfter Distanz, zwischen Verbundenheit und Rivalität, zwischen Konflikten der Zusammengehörigkeit und der unausweichlichen Notwendigkeit, sie zu ertragen oder irgendwie zu meistern, eine Schule des Lebens schlechthin sieht. So weit, so gut. Allerdings: So wie der individuelle Organismus für ausfallende oder reduzierte Organe eine Kompensation findet, so ersetzt das Individuum verloren gehende Sozialbeziehungen. Kinder und Jugendliche sind da unkomplizierter noch als Erwachsene. Sie wenden sich an Freunde. Und sie werden dabei in der Regel heutzutage von ihren Eltern unterstützt, die ein schlechtes Gewissen haben, weil sie ihren Kindern keine Geschwister mit auf dem Weg gegeben haben.
Sicher, Freundschaft hat nicht die gleiche soziale Struktur wie Brüderlichkeit oder Schwesterlichkeit. Es fehlt ihr das nichtgewählte, das schicksalhafte Element. Aber wer sagt denn, dass |214| das Individuum nur in der Auseinandersetzung mit Brüdern und Schwestern die Eigenheit und das individuelle Glück entwickeln kann, das seine Individualität zugleich entfaltet und sozial einbindet? Es gibt jedenfalls, von Vermutungen abgesehen, keine gesicherten Erkenntnisse darüber, dass Kinder, die ohne Geschwister aufwachsen, individuell und sozial defizitär wären. Außerdem wirkt sich, wie wir gesehen haben, der Fall der Geburtenrate nicht dahin aus, dass die Zahl der geschwisterlosen Einzelkinder anschwillt, sondern dahin, dass die Zahl der ungeborenen Kinder größer wird.
Wenn denn die Individualität der Heranwachsenden in geburtenarmer Gesellschaft tatsächlich darunter leiden sollte, dass sie im Solidarischen wie im Konflikthaften zu wenig Geschwister haben, dann muss man fragen, ob nicht andere Sozialbeziehungen an die Stelle der geschwisterlichen treten: Freunde wählt man und umwirbt man; Verwandte wachsen einem zu, werden freudig angenommen oder aber auch auf Distanz gehalten; in jedem Falle formt sich Individualität in Auseinandersetzung mit ihnen nicht anders als im Streit und im Zusammenhalt mit Geschwistern. Der Prozess kann noch ausgedehnt werden, wenn, im internationalen Austausch der Schüler, Studenten und Praktikanten auch grenzüberschreitende geschwisterähnliche Bindungen entstehen. In jedem Falle stehen die Jugendlichen der geburtenschwachen Generationen in Bezug
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