Wenn alle anderen schlafen
gelenkt hat.«
Er grinste. »Oh, jetzt hab ich mich doch wieder als Jurist offenbart.«
»Ich arbeite öfters für
Anwälte.«
»Wo?«
»In San Francisco, unter
anderem.«
»Ich war fünfzehn Jahre bei der
Staatsanwaltschaft in Oakland. Jetzt habe ich hier ein Anwaltsbüro.
Erbschaftsangelegenheiten, ja, auch Scheidungen, das ist alles immer noch
sauberer als die Sachen, mit denen ich früher befaßt war. Und die Luft ist hier
auch sauberer.«
»Wegen Lee...«
»Ich weiß, ich rede zuviel. Und
ich hacke auch haufenweise Holz — wenn es mich nur davon abhält, an einem so
schönen Tag in die Kanzlei zu gehen. Okay, ich will es kurz machen: Was Lee
auszuhalten hatte, waren eine betrunkene Mutter und ein Vater, der sich
weigerte, das Problem zuzugeben und anzugehen. Ladies haben nun mal nicht den
ganzen Tag zu trinken und vor ihrer Lieblingsseifenoper wegzusacken, also
konnte das in seinem Haus nicht passieren. Hal war ein erfolgreicher Geschäftsmann,
Rotarier-Vorsitzender, eine Säule der Kirchengemeinde und der Gesellschaft. Die
alte Geschichte: Er hat’s vertuscht und Lee gezwungen, dabei zu helfen. Ihre
Funktion innerhalb der Familie bestand darin, die Wogen zu glätten, den
Haushalt zu führen und sich um Mommy zu kümmern, wenn die zu blau war, um es
selbst zu können, was meistens der Fall war.«
»Und Lee hat nicht dagegen
rebelliert?«
»Sie hat getan, was von ihr
verlangt wurde. Wie es innerhalb des Hauses aussah, weiß ich nicht — da kam
niemand rein — , aber nach außen hin war alles perfekt. Die Rosensträucher
haben nicht immer so ausgesehen wie jetzt. Und Lee war auch perfekt: gut
gekleidet, gepflegt, immer ein Lächeln für jedermann. Sie hat es verdammt gut
überspielt.«
»Aber Sie wußten, was lief.«
»Na klar. Beth und ich, wir
schauen genau auf dieses Haus. Und in einer so ruhigen Gegend tragen Stimmen
weit. Wir hörten Marge rumschreien und -lallen. Wir hörten Hals ausweichendes
Gebrummel, und wir hörten Lee besänftigend auf beide einreden. Als wir hier
einzogen, war Lee in der zehnten Klasse. Wir merkten, was da los war, und
bemühten uns, gute Nachbarn zu sein. Dann fand Beth eines Tages Marge völlig
weggetreten im Garten. Sie schleppte sie ins Haus, steckte sie ins Bett,
wartete auf Hal, um mit ihm zu reden. Er erklärte ihr, daß Marge — die weithin
nach Gin stank — an Unterzucker leide, der manchmal bis zum Schock gehe. Beth
war früher Krankenschwester; sie hat ihm das nicht abgenommen. Daraufhin hat
Hal ihr die Tür gewiesen und nie wieder ein Wort mit einem von uns geredet.«
»Und Lee?«
»Sie hat das Spiel
weitergespielt, bis hin zu den selbstgebackenen Weihnachtsplätzchen, aber ihr
Lächeln war mehr als verkrampft. Moms Geheimnis mußte gehütet werden.«
»Wissen Sie noch, wie das war,
als Lee aus Paradise wegging?«
»O ja. Da drüben war der Teufel
los. Das war vielleicht eine Woche nach Marges Beerdigung. Lee hat sich eines
Morgens einfach rausgeschlichen, ohne eine Zeile zu hinterlassen, ohne
irgendwas anderes mitzunehmen als den Wagen und die Kleider, die sie am Leib
hatte. Hal ließ die Polizei anrücken, die Deputies. War fest davon überzeugt,
daß ihr irgendwas Schreckliches zugestoßen sein mußte. Sie leiteten sofort eine
Suchaktion ein — trotz der vorgeschriebenen Zweiundsiebzig-Stunden-Frist. Hal war
ein wichtiger Mann, und Lee hätte ja beim Sheriff’s Department anfangen sollen,
bevor Hal damals beschlossen hatte, daß er sie zu Hause brauchte. Sie fanden
ihren VW bei einem Gebrauchtwagenhändler in Oroville.«
»Aber Lee haben sie nicht
aufgespürt?«
»Nach drei Tagen hat Hal die
Aktion abgeblasen. Das weiß ich von einem Pokerkumpan beim Sheriff’s
Department. Hal hat erklärt, sie sei eine erwachsene Frau, die gehen könne,
wann und wohin sie wolle, und hat die Vermißtenanzeige zurückgezogen. Später
hat er dann behauptet, er habe von ihr gehört und sie lebe jetzt in Phoenix.
Und dann hat er das Geschäft verkauft, sich, bis auf die unumgänglichen
Besorgungen, in seinem Haus eingeigelt und mit diesem ›Ich habe keine
Tochter‹-Quatsch angefangen.« Parrish guckte finster zu dem D’Silvaschen Haus
hinüber und schüttelte den Kopf. »Der alte Griesgram hat es nicht verwinden
können, daß sie seiner Fuchtel entronnen ist. Daß es schwer ist, Kinder
herzugeben, kann ich ja verstehen, aber die eigene Tochter rundweg zu verleugnen...«
Er schaute zu Boden, scharrte
mit der Stiefelspitze Holzsplitter weg. »Beth und ich, wir
Weitere Kostenlose Bücher