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Wenn alle anderen schlafen

Wenn alle anderen schlafen

Titel: Wenn alle anderen schlafen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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hatten eine Tochter,
Amy. Sie ist mit siebzehn ums Leben gekommen — Bootsunfall auf dem Clear Lake.
Wenn ich sie dadurch zurückholen könnte, würde ich auf der Stelle mit ihr
tauschen. Und wenn sie mir sonst was angetan hätte.«
     
    Carolyn Alperts Hände waren
schmal und langfingrig und schoben die bunten Wollstränge rasch und geschickt
in die wabenartigen Regalfächer an der Rückwand ihres Ladens. Um drei Uhr
nachmittags war keine Kundschaft im Woll im Trend, wenn mich die
Inhaberin auch gewarnt hatte, daß um vier ein Fortgeschrittenen-Häkelkurs
kommen würde.
    »Ja«, sagte sie, während sie
Mohair- und Angorawolle einsortierte, »Ken Parrish hat schon recht, was Lees
Leben damals angeht — aber er weiß noch nicht mal die Hälfte.«
    »Sie waren ihre beste
Freundin.«
    »Vom Kindergarten bis zum
College.« Sie hörte mit Einräumen auf und drehte sich um — eine gertenschlanke
Blondine in einem langen blauen Kleid und Stiefeln. Ihre zarter Gesichtsschnitt
wurde durch feine Haarsträhnen betont, die sich weich in ihre hohe Stirn
kringelten. »Lee und ich waren von dem Moment an Freundinnen, als Tommy Guest
mich nicht aufs Schaukelpferd lassen wollte. Ich habe losgeheult; Lee hat ihm
eine kleine Predigt über Fairneß gehalten, und ob Sie’s glauben oder nicht, er
ist prompt abgestiegen und hat mir raufgeholfen.« Sie lächelte. »Auf der
High-School haben wir dann allerdings rausgekriegt, daß er’s nur deshalb getan
hat, weil er damals schon in sie verknallt war. Diese Liebe fand ihre Erfüllung
dann in der Nacht unseres Junior-Abschlußballs.«
    »Was ist aus Tommy geworden?«
    Alpert begann an dem weichen apricotfarbenen
Wollknäuel, das sie in der Hand hielt, herumzuzupfen. »Er fiel in der Woche
nach unserem High-School-Abschluß einem betrunkenen Autofahrer zum Opfer. Das
hat Lee endgültig darin bestätigt, zur Polizei zu gehen.«
    »Wenn es Ihren Zeitplan nicht
allzusehr durcheinanderbringt, würde ich gern noch etwas mehr über Lee hören.
Jede Kleinigkeit kann mir helfen, sie zu finden.«
    Sie nickte und zeigte auf zwei
weiße Korbsessel mit rosageblümten Polsterauflagen. Sobald wir uns hingesetzt
hatten, griff sie in einen Korb und zog ein Strickzeug aus feiner blaßgelber
Wolle heraus. »Ich stricke Pullover auf Bestellung«, erklärte sie. »Und ich
kann besser denken, wenn meine Hände beschäftigt sind, vor allem, wenn es um
ein Thema geht, das mich aufregt.«
    »Und das Thema Lee regt Sie
auf?«
    »Es macht mich vor allem
traurig. Wo soll ich anfangen?«
    »Wo immer Sie möchten.«
    »Na ja, wie wir uns
kennengelernt haben, wissen Sie ja schon. Auf der Grundschule haben wir das
übliche Kleinmädchenzeug zusammen gemacht, nur daß wir meistens bei mir oder
bei irgendwelchen anderen Freundinnen waren. Lee durfte nicht mal eine
Geburtstagsparty veranstalten. Als Erklärung hat sie immer gesagt: ›Meine
Mutter ist sehr nervös, und sie hat ein ernstes Leiden.‹«
    »Klingt, als hätte ihr Vater ihr
das eingetrichtert. So redet doch kein Kind.«
    »Ich war immer überzeugt, daß
es von ihm stammt.«
    »Lee wurde mir als Musterkind
und perfektes junges Mädchen geschildert.«
    »Hm... ja und nein. Sie hatte
hervorragende Zeugnisse. Sämtliche Pfadfinderabzeichen. War Präsidentin der
kirchlichen Jugendgruppe. Klassensprecherin. All dieser Kleinstadtkram, der
einen in den Augen von Eltern und Lehrern auszeichnet. Aber sie hatte,
zumindest in den ersten Schuljahren, noch eine andere Seite. Sie liebte
harmlose Streiche. Sie kletterte höher rauf und schwamm weiter raus als alle
anderen. Einmal stieg sie bis auf unseren Dachfirst, und die Feuerwehr mußte
sie wieder runterholen. Das ist nie bis zu ihren Eltern durchgedrungen; die
meisten Leute wußten, was mit ihnen los war, und wollten es nicht noch
verschlimmern.«
    »Sie sagen, so war Lee in den
ersten Schuljahren. Was hat sie dann verändert?«
    »Es wurde immer schlimmer mit
ihrer Mutter. Sie trank immer mehr und benahm sich immer unmöglicher. Lee hat
darauf reagiert, indem sie eine Art Perfektionswahn entwickelte und das alles
zu ignorieren versuchte — die Trinkerei ihrer Mutter und die verzweifelte
Leugnerei ihres Vaters. Das war bestimmt nicht leicht.« Carolyn Alperts Finger
vertaten sich. Sie biß sich auf die Lippe und korrigierte eine falsche Masche.
»Lee hat nie jemanden zu sich nach Hause eingeladen, nicht mal Tommy Guest, und
mit dem ging sie ja inzwischen fest. Aber in unserem zweiten High-School-Jahr
hatten meine Eltern

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