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Wenn alle anderen schlafen

Wenn alle anderen schlafen

Titel: Wenn alle anderen schlafen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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eine Reise nach Hawaii gewonnen, über Thanksgiving, und
Mrs. D’Silva sagte doch tatsächlich zu Lee, sie dürfe meinen großen Bruder und
mich zum Essen einladen. Lee war zwar total nervös deswegen, aber auch total
glücklich. Vielleicht glaubte sie ja, jetzt würde sich alles ändern.«
    »Als wir kamen, schien Mrs.
D’Silva ganz okay. Sie hatte zwar getrunken, hatte sich aber im Griff. Doch bis
das Essen schließlich auf dem Tisch stand, war sie schon ziemlich blau — hatte
beim Kochen die ganze Zeit vor sich hin gepichelt. Sie fing an, alle wegen
ihrer Tischmanieren anzumeckern — ihren Mann eingeschlossen — und sich zu
beschweren, daß niemand ihre Mühe zu würdigen wisse. Sie trank immer weiter,
stocherte nur in ihrem Essen herum und fiel dann schließlich mit dem Gesicht in
ihren Kartoffelbrei.«
    »Und was tat Mr. D’Silva?«
    »Er stand auf und verschwand in
seinem Arbeitszimmer. Mein Bruder und ich, wir wollten Lee helfen, mit ihrer
Mutter und dem Chaos in der Küche, aber sie hat uns mit einer ordentlichen
Portion Reste heimgeschickt. Am nächsten Tag hat sie mir dann gesagt, das sei
noch längst nicht so schlimm gewesen wie manch andere Festtagsmahlzeiten.«
    »Dann hat sie sich Ihnen also
anvertraut?«
    »Bis zu einem gewissen Punkt.
Aber dieses Thanksgiving war für sie eine schlimme Demütigung; danach war unser
Verhältnis nie wieder wie vorher. Und sie wurde immer ehrgeiziger: Sie war
Cheerleader, Schulsprecherin, spielte die Hauptrolle im Theaterstück der
Abschlußklasse, hielt unsere Abschlußrede, war die Schulabgängerin, von der es
im Jahrbuch hieß, daß sie’s am weitesten bringen würde. Und am College dann
genau dasselbe: die Vollkommenheit in Person.«
    »Springen wir jetzt mal zu der
Zeit, als Lee ihre Mutter pflegte. Haben Sie sie da oft gesehen?«
    »Nein. Ich hatte einen
anstrengenden Job bei der Telefongesellschaft. Lees Mom war mehr als ein
Vollzeitjob, und außerdem hat sie ja noch die gesamte Buchführung für die
Baustoffhandlung gemacht. Kurz vor meiner Heirat haben wir ein paarmal zusammen
zu Mittag gegessen — sie war meine Brautjungfer — , und ich habe ihr angesehen,
daß der Streß enorm an ihr gezehrt hat und daß es ihr das Herz gebrochen hat,
diese Chance beim Sheriff’s Department nicht wahrnehmen zu können. An meinem
Hochzeitstag konnte sie nicht mal mehr zum Empfang bleiben, weil ihre Mom und
ihr Dad sie brauchten.«
    »Und als ihre Mutter starb?«
    »Mein Mann und ich waren bei
der Beerdigung. Lee war total versteinert; sie hat überhaupt niemanden richtig
zur Kenntnis genommen.«
    »Und als sie von hier wegging,
hat sie Ihnen da gesagt, was sie vorhatte?«
    Alpert verstrickte sich wieder.
Ihr Mund zuckte, und sie wickelte das Strickzeug um Nadeln und Wolle und legte
es in den Korb zurück. »Nicht genau, nein.«
    »Aber Sie wußten, daß sie weg
wollte?«
    »Nicht, bevor sie faktisch
losfuhr.« Ihr Blick wanderte gedankenverloren in die Feme, und sie strich sich
den langen Rock über den Schenkeln glatt. »Ich war an dem Morgen schon früh
auf; mein Mann ist im Bauwesen und mußte an dem Tag zu einer Baustelle in Glenn
County. Ich saß um halb vier in der Küche und trank Kaffee, und plötzlich hielt
Lees alter VW in unserer Einfahrt, und sie kam reingestürzt. Sie sah müde aus,
aber irgendwie aufgekratzt — besser als seit Jahren. Sie erklärte mir, sie
könne nicht einfach verschwinden, ohne sich von mir zu verabschieden, aber sie
ginge jetzt endgültig weg.«
    »Na ja, ich habe mich für sie
gefreut. Wo sie denn hin wolle, habe ich gefragt. Könne sie nicht sagen. Warum
nicht? Damit ihr Vater sie nicht aufspüren könne. Wieso? Das würde ich
erfahren, wenn in ein paar Tagen alles rauskommen würde. Und dann hat sie mich
an beiden Händen gefaßt und mir in die Augen geguckt, so traurig. Sie hat
gesagt: ›Bitte verurteile mich nicht zu hart für das, was ich getan habe. Ich
weiß, wenn es jemand verstehen kann, dann du.‹ Wir waren ja all die Jahre
Freundinnen gewesen, und ich hatte sie nie dazu bringen können, mir was zu
erzählen, was sie mir nicht sagen wollte, also habe ich ihr eine Thermoskanne
mit Kaffee mitgegeben und zugeguckt, wie sie losgefahren ist.«
    »Haben Sie je wieder etwas von
ihr gehört?«
    Alperts Augen waren jetzt
feucht. »Nein, ich habe immer auf einen Brief oder eine Karte gewartet, aber es
kam nie was.«
    »Und es kam auch nie heraus,
was sie getan hatte?«
    »Nein. Ich bin immer davon
ausgegangen, daß es irgendwas

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