Wenn alle Schranken fallen
“Haben Sie schon gewählt?”
“Wir brauchen noch ein paar Minuten.” Gordons Stimme klang schroff, und er war nicht überrascht, als die blonde Kellnerin ihn aus großen Augen ansah und davonhuschte.
“Ich fürchte, du hast sie zu Tode erschreckt.” Beiläufig sah Lydia sich im Restaurant um. Hoffentlich hatte niemand von ihr und ihrem Lunchpartner Notiz genommen …
“Es ist ein weiterer Anruf gekommen, nachdem ich in jener Nacht weggefahren bin?”, hakte Gordon nach. Er beugte sich über den Tisch und griff nach ihrer Hand, die auf der Speisekarte lag. “Konntest du feststellen, ob es ein Mann oder eine Frau war?”
“Nein, die Stimme klang gedämpft und krächzend, so wie immer.” Bevor er sie berühren konnte, zog Lydia die Hand zurück.
“Hast du die Polizei benachrichtigt?”
“Nein.”
“Dann hättest du wenigstens mir Bescheid geben sollen.”
“Wir wollten unsere Beziehung doch abbrechen. Außerdem war es der letzte Anruf.”
“Dieselbe Person?”, wollte er wissen.
“Ja.”
“Was hat sie gesagt?”
“Wer immer es war, riet mir lediglich, dich nicht mehr zu treffen, oder ich würde es bereuen.” Sie warf ihm einen vorsichtigen Blick zu, ihr Herz hämmerte laut, ihr Magen verkrampfte sich.
“Verflucht!”
“Sprich leiser. Die Leute starren uns an.”
Stets die wohlerzogene junge Lady, die sich um den äußeren Anschein Sorgen macht, dachte Gordon grimmig. Er wünschte, Macie hätte auch nur halb so viel Respekt vor Sitte und Anstand besessen wie Lydia, und gleichzeitig wünschte er, Lydia wären diese Dinge nicht ganz so wichtig. “Warum hast du mich zum Essen eingeladen?”
“Wieso bestellen wir nicht erst einmal?” Schnell nahm Lydia die Speisekarte auf und überflog die Seiten. “Das Geschäftliche kann warten.”
“In Ordnung.” Geschäftliches? Was für ein Geschäft konnten sie wohl zu besprechen haben?
Offensichtlich war Gordon nicht hergekommen, um über Geschäfte zu reden, sondern hatte den falschen Eindruck gewonnen, dass ihr Treffen privater Natur war. Wenn sie ihm nur sagen könnte, was sie fühlte: Mehr als alles auf der Welt wollte sie mit ihm Zusammensein, seine Liebe und seine geheimsten Gedanken teilen.
Aber sie konnte sich das Vergnügen seiner Gesellschaft nicht leisten. Wenn sie sich nicht von ihm fernhielt, war sie verloren. Lydia hielt sich für eine starke Frau, doch wie lange konnte sie dem verlangenden Ausdruck in Gordons Augen noch widerstehen?
Ihr Lunch dauerte ewig. Mehr als nur oberflächliches Geplauder kam während des Essens nicht zustande. Schließlich lenkte Lydia das Gespräch vorsichtig auf den Grund ihrer Einladung und berichtete von ihren Überlegungen, zur Innenarchitektur zurückzukehren.
“Wenn sich alles so ergibt, wie ich hoffe, kann ich eins der Geschäfte in dem neuen Einkaufszentrum für mein Studio mieten.”
“Was für ein neues Einkaufszentrum?” Misstrauisch sah Gordon sie an.
“Du kennst doch die Pläne, die alten Gebäude an der Cotton Row abzureißen und dort ein schönes, modernes Einkaufszentrum zu errichten.” Lydias Herz raste, ihre Handflächen wurden feucht.
“Ich dachte, die Investoren würden sich nach einem anderen Gelände umsehen, da mehrere der Landbesitzer nicht verkaufen wollen.” Wie Gordon wusste, hatten sich seine Mutter, Horace Pounders und Marcus Holt gegen einen Verkauf entschieden.
“In ganz Riverton gibt es kein geeigneteres Grundstück. Ich kann mir nicht vorstellen, weshalb jemand das Land unbedingt behalten möchte. Meine Güte, dort gibt es nichts außer einem Haufen verwahrloster alter Gebäude und verrostete Eisenbahnschienen.”
“Du willst also einen Teil der Geschichte Rivertons abreißen, um Platz für den Fortschritt zu schaffen.”
“Das klingt, als hätte ich keinen Sinn für die Vergangenheit, und das ist einfach nicht wahr.” Lydia umklammerte die Tischkante und blickte Gordon mit zornesfunkelnden Augen an. Wie konnte er sie des mangelnden Respekts vor dem kulturellen Erbe beschuldigen? “Zufälligerweise gehöre ich der Historischen Gesellschaft an und habe mich für den Erhalt mehrerer Bauten aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg hier in Riverton eingesetzt.”
“Warum willst du dann die Cotton Row nicht retten?” Dankend nickte Gordon der Serviererin zu, die seine Kaffeetasse wieder auffüllte. “Ma wird dieses Land nie verkaufen, wenn es den Abriss der alten Spinnerei und der anderen Gebäude bedeutet.”
Während die Kellnerin ihr Kaffee
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