Wenn alle Schranken fallen
Schwägerin ein wenig unreif wirkte, mochte Lydia sie auf Anhieb. Tanya strahlte Verletzlichkeit aus, fast so, als wäre sie ein ungeliebtes Kind.
“Darauf zähle ich. Ma ist ein guter Gesellschafter, aber sie fährt nicht so gerne zum Einkaufen in die Stadt oder nach Tupelo oder Corinth.”
“Ganz im Gegensatz zu mir. Gelegentlich muss ich auch Fahrten nach außerhalb machen, denn ich baue gerade mein Innenarchitekturstudio wieder auf. Zwei Kunden habe ich bereits.”
“Willst du deine schwangere Frau in der Gegend herumziehen lassen?” Ben war entsetzt.
“Sie wird nicht …”
“Gordon und ich hatten noch keine Gelegenheit, über meine Arbeit zu sprechen”, stellte Lydia richtig.
“Toll, dass du einen eigenen Beruf hast.” Da Molly mit einem Kuchentablett eintrat, sprang Tanya schnell auf. “Ich habe direkt nach der Highschool geheiratet … beim ersten Mal.” Sie nahm Molly das Tablett ab. “Komm, Honey, lass mich dabei helfen.”
“Aber ich möchte Lydia ihr Stück bringen.” Molly reichte ihrer neuen Stiefmutter einen Teller. “Es ist Schokoladentorte. Daddys Lieblingskuchen.”
“Danke.” Wie um alles in der Welt sollte sie dieses große Stück Kuchen herunterbringen?
“Hier ist Kaffee.” Ruth stellte das Tablett auf dem verkratzten Couchtisch ab, bevor sie Lydia gegenüber in einen großen Schaukelstuhl sank.
Die Ellenbogen auf die Lehne von Lydias Sessel gestützt, betrachtete Molly eindringlich ihre neue Stiefmutter. “Nächsten Monat haben wir eine Ostereiersuche in der Schule, und alle Mütter sind eingeladen.”
“Molly!” Gordon wusste, wie sehr seine Tochter sich danach sehnte, endlich wieder eine Mutter zu haben. Trotzdem durfte sie nicht noch mehr Druck auf Lydia ausüben. Wenn seine Ehe eine Chance haben sollte, musste er die Sache langsam angehen und dafür sorgen, dass seine Familie keinerlei Probleme schuf.
“Ich komme gern mit auf deine Ostereiersuche.” Tränen standen Lydia in den Augen. Der Eifer des Kindes rührte sie. “Als kleines Mädchen besaß ich einen riesengroßen Korb. Ich werde meinen Bruder bitten, ihn mir zu schicken.”
“Wie groß ist er?” Aufgeregt beugte Molly sich näher und näher.
Lydia maß einen Korb von enormem Umfang ab. “Am Ostersamstag stellen wir ihn abends an dein Bettende, dann sehen wir ja, ob dir der Osterhase einen Besuch abstattet.”
Mollys Augen wurden groß vor Staunen und Freude, und Lydia erinnerte sich an all die Jahre, in denen der Osterhase zu ihr gekommen war. Erst mit neun Jahren fand sie heraus, dass ihr Vater jedes Jahr den Korb mit Süßigkeiten gefüllt hatte.
“Der Osterhase ist noch nie bei uns auf der Farm gewesen. Daddy kauft mir immer einen dieser fertigen Körbe im Laden. Wir wussten nicht, dass man einen leeren Korb am Fußende des Bettes aufstellen muss, oder, Grandma?”
“Weißt du, Daddys und alte Großmütter wissen nicht immer so genau Bescheid über Osterhasen und solche Dinge. Aber junge Muttis tun das.” Nach einem Schluck Kaffee meinte sie: “Beeilt euch ein bisschen. Wir wollen rüber zum Wohnwagen gehen und die Jungvermählten allein lassen.”
“Zum Wohnwagen?”
“Du und Molly geht?”, fragte Gordon im selben Moment wie Lydia.
“Ben und Tanya leben in einem Wohnmobil ein paar hundert Meter die Straße hinunter”, erklärte Ruth. “Molly und ich verbringen die Nacht bei ihnen. So bekommt ihr beide wenigstens etwas Privatsphäre. Von jetzt an werdet ihr davon nämlich nicht mehr viel haben.”
“Mrs Cameron, das ist wirklich nicht nötig.” Lydia war nicht sicher, ob sie mit ihrem schweigsamen, mürrischen Bräutigam allein bleiben wollte.
“Doch, es ist nötig. Und hör auf, mich Mrs Cameron zu nennen. Sag Ruth zu mir, und eines Tages, wenn du mich besser kennst, kannst du mich Ma nennen.”
“Vielen Dank, Ruth.” Lydia fühlte eine unbeschreibliche Dankbarkeit für ihre Schwiegermutter, denn sie hätte ihnen eine Menge Schwierigkeiten bereiten können.
“Ich schicke Molly vom Wohnwagen aus zur Schule, dann könnt ihr beide schlafen, so lange ihr wollt. So, von mir aus können wir gehen.” Schon stellte sie die Kaffeetasse ab und stand auf. “Molly, lass uns deinen Koffer holen.” Ruth zog die Kleine auf die Füße und führte sie aus dem Zimmer.
“Ich erwarte dich morgen früh zur gewohnten Zeit in den Hühnerställen”, warnte Ben seinen Bruder auf dem Weg zur Haustür.
“Lass dich nicht von Bens griesgrämiger Haltung ärgern.” Tanya umarmte ihre
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