Wenn alle Schranken fallen
neue Schwägerin. “Er ist ein guter Mann, er kommt nur nicht über den Unfall weg … Paul starb … dann hat er mich geheiratet und … na ja, verurteil ihn nicht, bevor du ihn nicht besser kennengelernt hast.”
Plötzlich waren Lydia und Gordon allein.
“Ich hole deine Koffer aus dem Wagen.” Ohne sie zu berühren oder auch nur anzusehen, ging Gordon an ihr vorbei. An der Haustür blieb er stehen. “Wenn ich deine Sachen in unser Zimmer gebracht habe, muss ich nach draußen. Es wird nicht lange dauern, aber es gibt ein paar Dinge hier auf der Farm, die nicht warten können.” Schon war er davongeeilt.
Innerhalb von Minuten kehrte er mit ihren Koffern zurück und ging ohne ein Wort nach oben.
Lydia blieb gerade genug Zeit, sich im Wohnzimmer umzusehen, da kam Gordon in Jeans und T-Shirt die Treppe hinunter. Nach einem flüchtigen Kuss auf die Wange ging er hinaus und schlug die Tür hinter sich zu.
Ein Teller nach dem anderen glitt in das warme Wasser. Lydia konnte sich nicht erinnern, jemals zuvor Geschirr mit der Hand gespült zu haben. Als Kind gab es immer eine Haushälterin für solche banalen Aufgaben; später, als sie ihr eigenes Apartment bewohnte, gehörte ein Geschirrspüler zur Standardeinrichtung, und natürlich besaß ihr Haus in der Stadt eine Spülmaschine und eine Haushaltshilfe, die dreimal in der Woche kam.
Lydia betrachtete ihre Hände. Winzige Seifenblasen glitzerten auf dem glänzenden neuen Ring. Der breite Goldreif fühlte sich fremd an ihrem Finger an. Das schlichte Symbol einer lebenslangen Bindung erinnerte sie an die Farce ihrer ersten Ehe. Tyler hatte ihr einen zweikarätigen Diamanten geschenkt, aber sein Schwur, sie zu lieben, zu ehren und ihr treu zu sein, war wertlos gewesen. Nun fragte sich Lydia, was dieselben Versprechen ihrem neuen Ehemann bedeuteten.
Vom Küchenfenster aus erhaschte sie einen Blick auf Gordon und wünschte, er würde sich nicht so viel Zeit lassen, draußen nach dem Rechten zu sehen. Über zwei Stunden war er schon fort. In der Zwischenzeit hatte sie sich ihr neues Zuhause angesehen. Das alte Farmhaus war in einem erbärmlichen Zustand. Obwohl die Bausubstanz gesund war und sich unter den unzähligen Schichten von Farbe, scheußlichen Tapeten und billiger Vertäfelung vermutlich viktorianische Stuckverzierungen befanden, wirkte Gordons Heim, als sei es mit den Überresten aus Garagenverkäufen eingerichtet worden. Das Haus war ein Schandfleck für jeden, der nur einen Funken guten Geschmack besaß, aber für einen Innenarchitekten war es ein Albtraum. Hoffentlich erlaubten Gordon und seine Mutter ihr, mit der Renovierung anzufangen – und zwar bald …
Sobald der Abwasch beendet war, ging Lydia nach oben ins Schlafzimmer, wo Gordon ihr Gepäck abgestellt hatte. Außer einigen Stofftieren und Spielzeug in einem der Zimmer unterschied sich dieser Raum in nichts von den anderen dreien. Hartholzfußboden, vier Meter hohe Wände, verblasste, billige Gardinen, die vor langen, schmalen Fenstern hingen, beschädigte alte Möbel und ein Sortiment von grellbunten Läufern gab allen Räumen im oberen Stockwerk ein fast identisches Aussehen.
Erleichtert seufzte Lydia auf, als sie ein kleines Badezimmer entdeckte, das zu ihrem Zimmer gehörte. Die Armaturen waren museumsreif, aber sie verliebte sich auf Anhieb in die klauenfüßige Badewanne. Mehrere saubere Handtücher lagen auf der Kommode, zusammen mit einem Stück Seife und zwei Waschlappen. Zweifellos Ruths Verdienst. Bei dem Gedanken an ein langes, heißes Bad in dieser antiken Wanne musste Lydia lächeln. So wie die Dinge lagen, könnte es das Glanzlicht ihrer Hochzeitsnacht werden …
Dies war der längste und schwierigste Tag ihres Lebens gewesen, und Gordon hatte nicht einmal versucht, ihr die Situation zu erleichtern. Seit seine Familie gegangen war, erfand er endlose Pflichten, die ihn von ihr fernhielten. Nun, Lydia hatte nicht die Absicht, unten zu warten, bis er beschloss, seinen Arbeitstag zu beenden. Sie würde ein Bad nehmen und ins Bett gehen. Und wenn sie Glück hatte, schlief sie schon, wenn er nach oben kam.
Gordon öffnete die Hintertür, betrat die dunkle Küche und lauschte. Das Summen des Durchlauferhitzers vermischte sich mit dem prasselnden Feuer im Wohnzimmer und dem Ticken der Uhr auf dem Kaminsims. Die normale nächtliche Harmonie in dem alten Farmhaus.
Ohne jeden Zweifel war dies der längste Tag seines Lebens gewesen. Er war frisch verheiratet, erwartete sein zweites Kind,
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