Wenn Blau im Schwarz ertrinkt (Teil 1)
… sie plötzlich alle Nasenbluten hatten.“
„Und das kam dir nicht seltsam vor? Dass drei Mädchen zur exakt gleichen Zeit mal eben beschlossen haben, eine großzügige Blutspendeaktion aus der Nase abzugeben? Nachdem ich ihnen gesagt habe, dass sie verschwinden sollen?“
„Nun … nein … ich habe nie so richtig darüber nachgedacht. Natürlich war das seltsam, aber was hast du damit zu tun?“
Er fixierte sie und sagte: „Sie sind weggelaufen, weil ich es so wollte. Sie haben Nasenbluten bekommen, weil ich da war.“
Mit einem Lachen in der Stimme sagte sie: „Red keinen Unsinn, Nick! Wie solltest du das denn bitte angestellt haben? Übertreibst du es jetzt nicht ein bisschen mit deinen Fähigkeiten?“
Über den Tisch hinweg sah er sie unverwandt an. Aus Augen, hinter deren blauschwarzer Oberfläche ein gepeitschter Tanz von Emotionen stattzufinden schien. „Das Äußere enthüllt nicht immer die ganze Wahrheit. Genau genommen ist das Äußere der Teil, der am wenigsten Wahrheit enthält.“
Sie starrte ihn verständnislos an. „Was willst du mir damit sagen?“
„Du glaubst, dass ich normal bin. Dass ich ein Mensch bin. Aber das bin ich nicht. Auch wenn ich wie einer aussehe. Ich bin anders als all die Personen um uns herum – als du. Ich weiß nicht, als wie viel Mensch man mich bezeichnen kann. Ich weiß nur, dass ich meine Existenz nicht allein der natürlichen Evolution, sondern zum Teil einer Frau, einer Hexe, aus dem Mittelalter verdanke.“
Argwohn und Belustigung wallten in ihr auf, doch machte er nicht den Eindruck, als würde er einen Witz reißen. Sie setzte sich etwas aufrechter hin und versuchte mit ernster Haltung und Stimme zu fragen: „Du willst mir also sagen, dass du kein richtiger … Mensch bist, sondern … anders bist?“
„Genau das will ich damit sagen. Ich bin zur Hälfte ein Mensch und zur Hälfte die Schöpfung einer Hexe. Genau genommen, ist die Erde gar nicht mein Zuhause – nicht gänzlich zumindest.“
Er ließ die Worte kurz in der Luft schwirren. „Möglicherweise erinnerst du dich noch an deinen Geschichtsunterricht zu Schulzeiten und an einige Fetzen das Mittelalter betreffend. Das Spätmittelalter, beziehungsweise die frühe Neuzeit, etwa der Zeitraum von 15. bis zum 18. Jahrhundert, war ein besonders dunkles Zeitalter der Menschen in West- und Mitteleuropa. Der freie Wille und das freie Denken wurden mit Füßen getreten, weil das Gesetz – die Kirche – der Ansicht war, dass einzig ihre Auffassungen und Wege ein Recht auf Existenz und Anerkennung verdienten. Jeder, der nicht konform mit diesen Ansichten und Wegen ging, war dem Staat – der Kirche – ein Dorn im Auge. Vor allem Anhänger des Heidentums und Frauen, die der Heilkunde mächtig waren, wurden als giftiges und unberechenbares Unkraut gebrandmarkt, das es auszurotten galt, um eine Infizierung zu verhindern. Diese Ausrottung im Namen der Religion ist als Verfolgung und Verbrennung der Hexen in die Geschichte eingegangen. Ein Wahnsinn, der in ganz Europa etwa 50.000 bis 60.000 Todesopfer – vorrangig Frauen – gefordert hat.
Ich persönlich denke zwar, dass das Problem jener Zeit nicht wirklich die Idealisten oder Individualisten, die Heiden oder die Hexen gewesen sind. Dass rein ihre Anwesenheit oder Existenz ein Problem verursacht hat. Es waren wohl eher jene, die an der Macht gewesen sind und das alleinige Sagen hatten haben wollen. Nun … wie auch immer.
Gegen Ende der Säuberung, nachdem die Mehrzahl der Leben bereits verwirkt waren, geschah etwas. Ein Beben rollte über die Erde hinweg, begleitet von einer sekundenlangen Verdunkelung der Sonne. Erdbeben und Sonnenfinsternissen waren damals noch unzureichend erforscht und galten daher nicht als Auswirkungen der Natur, sondern als Hexenhandwerk. War allein schon dieser Vorfall höchst erschreckend und einschneidend für die Menschen, so wurde er noch von einer weiteren Erscheinung begleitet. Eine neue „Seuche“, ein neuer „Feind“, eine neue „Ausgeburt des Bösen“ trat auf die Bildfläche: die Sensaten. Diesen Namen gaben die Kirchenvorsteher uns zumindest.“
Gwen überhörte das „uns“ nicht.
„In ganz Europa erschienen plötzlich Kinder, etwa im Alter von neun Jahren. Kinder, die von keiner Frau geboren worden waren, zu keiner Familie gehörten, sondern plötzlich einfach da waren. Keiner konnte erklären, wo diese Kinder auf einmal herkamen, doch stellte man leicht und schnell die Verbindung zu dem Beben und
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