Wenn Blau im Schwarz ertrinkt (Teil 1)
konnte ja nicht vorhaben, sie nach seinem Geständnis eine Ewigkeit allein im Regen stehen zu lassen. Außerdem war da immer noch die Sache mit seiner „unguten“ Verfassung, der er leider nicht mehr hinzugefügt hatte, als das, was er ihr in seiner Wohnung gesagt hatte. Was eigentlich so gut wie gar nichts war und lediglich mehr Fragen aufwarf, als es beantwortete. Vielleicht glaubte er, sie aus Rücksicht wegen der Nacht in der Gasse noch schonen zu müssen.
Der Gedanke daran ließ ein bodenloses Gefühl in ihr aufsteigen, welches sie sogleich resolut zu ignorieren versuchte.
Montagmorgen hatte ein Bericht über die gefundenen Leichen der beiden Männer – namentlich als Mike T. und Aridan H. benannt – in der Zeitung gestanden. Im Großen ging man von einem Mord aus. Bei einem eingestochenen Oberkörper und einer zermatschten Schädeldecke wohl einfach die erste vernünftige Schlussfolgerung. Jedoch hatte es eine Fußnote gegeben, die ziemlich seltsam geklungen hatte:
„Was den zweiten Mann betrifft, so konnte keine eindeutig pathologische Diagnose erhoben werden. Besagter Mann hatte eine Abdomenverletzung infolge eines einzelnen Messereinstichs davongetragen, der – nach Aussage des Gerichtsmediziners – jedoch nicht allein für den Eintritt des Todes verantwortlich gewesen war. Eine undefinierbare und nicht eindeutig lokalisierbare Hämorraghie habe zur tatsächlichen Todesursache geführt. Wie diese Blutung zustande kam, was sie ausgelöst hat, das ist der Gerichtsmedizin derzeit noch unklar.“
Vermutungen oder Hinweise bezüglich des Täters / der Täter waren keine vermerkt gewesen. Übel hatte sie daran gedacht, dass womöglich Fingerabdrücke von ihr und Nikolaj an den Kerlen zu finden sein würden. Doch ohne direkte Verbindung würde das allein nicht viel nützen.
Sie war extrem froh gewesen, dass Josh bereits aus dem Haus gewesen war, denn ihr Gesichtsausdruck wäre wohl nicht so einfach mit ein paar belanglosen Worten zu entschuldigen gewesen. Lange Zeit hatte sie auf den Ausschnitt gestiert, ganz so, als ob ihr Starren ihn irgendwie dazu bringen konnte sich in Luft aufzulösen – oder die Männer wieder zum Leben erwecken konnte.
Manche wären wohl der Ansicht, dass dies die gerechte Strafe für die beiden Kerle war. Sie jedoch konnte sich dieser Aussage nicht anschließen. Wer konnte schon sagen, was eine „gerechte Strafe“ war? Was für dieses oder jenes Verbrechen angemessen war? Wenn man eine Strafe – vor allem solche, die mit dem Tod vergolten wurden vollstreckte, machte man sich damit nicht genauso strafbar wie der Täter selbst? In gewisser Weise begab man sich somit doch auf die gleiche Ebene mit dem Täter?
Das Rechtssystem und die allgemeingültige Ansicht von „Gerechtigkeit“, von „Richtig“ und „Falsch“ verursachten ihr Bauchschmerzen. Ein Thema, das sie in Anwesenheit von Josh lieber nicht anschnitt. Zumindest nicht, wenn sie nicht auf ellenlange Diskussionen mit ihm aus war, die doch jedes Mal damit endeten, dass sie sich wie ein kleines, dummes und naives Kind vorkam, dass er, der allwissende, reife und gelehrte Erwachsene zu belehren versuchte.
Sie sprang auf, schnappte sich ein Buch aus dem Bücherregal, ließ sich wieder auf das Sofa plumpsen und begann zu lesen. Ihr Lieblingsbuch – Anna Karenina – wollte sie schon lange einmal wieder lesen. Jetzt hatte sie die Zeit dazu. Doch die Worte flossen durch sie hindurch, ohne dass sie deren Inhalt behalten konnte.
Nach drei Seiten klappte sie es wieder zu und warf es neben sich. Das war doch Unsinn. Sie musste nicht hier sitzen und darauf warten, dass Nick sich blicken ließ. Ganz so, wie ein pubertierender Teenager, der darauf wartete, dass der Angebetete endlich anrief oder wie ein armes Burgfräulein, das auf die Rettung ihres Helden wartete. Er würde ihr schon nicht die Tür vor der Nase zuschlagen. Und wenn er nicht da war, war er eben nicht da.
Sie erhob sich, trabte ins Schlafzimmer und zog sich eine blaue Jeans und einen dunkelgrünen Pullover mit V-Ausschnitt an. Zuvor würde sie noch einen Abstecher ins Bistro machen und zwei Portionen Sandwiches mitnehmen. Etwas Essbares würde er sicherlich nicht ausschlagen – wenn man den Zustand seines Kühlschranks bedachte.
Bei diesem Gedanken fiel ihr der eigene mitleiderregende und unausgefüllte Kühlschrank ein und sie nahm sich vor, nach dem Besuch bei Nikolaj noch im Lebensmittelladen haltzumachen und ein paar Dinge einzukaufen, die das
Weitere Kostenlose Bücher