Wenn Blau im Schwarz ertrinkt (Teil 1)
gewesen.
Aber sie hatte nie gewusst, mit wem sie es tatsächlich zu tun hatte. Er hatte es ihr nicht gesagt. Er hatte nicht gewollt, dass sie ihn mit anderen Augen ansehen würde. Deshalb war er ihren Fragen um sein Zuhause, seine Familie und Herkunft stets ausgewichen, ebenso wie er es mit Fragen seiner Familie in Bezug auf sie getan hatte. Er hatte nicht gewollt, dass ihm irgendwer in die Quere kam. Nicht seine Familie, nicht er selbst, sein Wesen, seine Sehnsüchte, sein Verlangen …
Doch da waren ihre Eltern gewesen. Sie hatten offensichtlich mehr, hatten klarer gesehen und erkannt, wer und was er war. Und wie zu erwarten, wie möglicherweise berechtigt, hatten sie damit begonnen, ihre Tochter vor ihm zu schützen. Erst subtil, dann mit gutem Zureden, mit Autorität und schließlich mit einem einschneidenden Umzug, der ihn für immer aus ihrem Leben verbannen sollte.
Aber er hatte sich nicht verbannen, nicht vertreiben lassen. Er wollte Gwen. Auf unzählige Arten. Aus unterschiedlichen Antrieben heraus. Auf welche es hinauslaufen würde, war noch nicht entschieden.
***
Mittwoch. Es war inzwischen fast Mittag und Gwen hatte sich seit halb neun in ihrem Pyjama auf der Couch festgesessen. Ihr Unterbewusstsein hatte die letzten beiden Tage samt Nächten scheinbar ausgiebig genutzt, um das überdimensionale und doch sehr schauderhafte Geständnis zu verarbeiten. Obwohl ihr Nikolajs Worte immer noch einen leicht konfusen Beigeschmack bescherten, hatten sich die Informationen unerwartet rasch gesetzt und schienen sich auf dem Weg Richtung „akzeptierte und legalisierte Halb-Sensaten-Akte, beschlossenes Urteil, gefällt durch die Zugeständnisse aller inneren Parteien“, zu befinden.
In Wahrheit war es nun Neugierde und weniger Irritation, die sich in ihr tummelte – denn Nick war immer noch Nick. Sie wollte mehr erfahren über diesen „Raum im Raum“, mehr darüber, was Senaten eigentlich genau waren. Was es für Nikolaj bedeutete, ein Halber zu sein. Am liebsten hätte sie sich sofort angezogen und wäre zu ihm gestürmt, doch Joshs Mahnung lieber zu Hause zu bleiben, weil sie sich krankgemeldet hatte, hallte in ihrem Kopf wieder. Ob diese „Mahnung“ in gekränkter Eitelkeit bezüglich des anderen Mannes und ihren Ausflüchten zum Geschehen der Nacht wurzelte oder wirklich ein Appell an ihre Vernunft gewesen war, konnte sie nicht genau sagen. Außerdem war es etwas seltsam, dass sie Nick aufsuchen sollte. Bisher war es immer nur andersherum gelaufen. Er war zu ihr gekommen. Zumindest wusste sie jetzt, warum. Wenn sein Zuhause gar nicht auf der Erde lag oder schon auf der Erde, aber eben nur irgendwie, hätte sie ihn wohl gar nicht aufsuchen können. Das alles war schon ziemlich verwirrend.
Eine Frage und einen Gedanken nach dem anderen herunterratternd, saß sie im Wohnzimmer und stierte im Abstand von drei Minuten auf die Uhr. Josh war in der Kanzlei und sie musste nicht arbeiten, sondern hatte freie Zeit. Lange war es her und eigentlich sollte man meinen, sie hätte diese nun genießen sollen. Freizeit war durch die Arbeit im Krankenhaus eine gewisse Rarität. Die seltenen freien Tage waren gefüllt von dringenden Erledigungen bei Ämtern oder sonstigen Gängen jener Art, mit Friseurbesuchen, die nach einer gewissen Dauer doch einfach mal nötig wurden, oder aber nach Absprache mit Josh als gemeinsam verplante Zeit. Unvorbereitet und allein hier sitzend überkam sie ein merkwürdiges und unwohles Gefühl, ganz so, als ob irgendetwas fehlte oder verkehrt war.
Sie sah sich im Zimmer um.
„Nicht deine, sondern Joshs Handschrift … kalt und blank … genauso wie Josh …“
Na toll. Da hatte Nick ihr tolle Flausen in den Kopf gesetzt. Warum hatte er das nur gesagt? Josh war doch nicht kalt und blank. Und die Wohnung auch nicht. Auch wenn er damit recht hatte, dass alle Einrichtungsgegenstände von Josh ausgewählt worden waren. Sie persönlich hätte wirklich eine andere Art von Mobiliar ausgewählt. Mehr Holz, das für ein warmes und behagliches Raumklima sorgte. Mehr farbliche Akzente und mehr Pflanzen. Vielleicht auch eine gänzliche andere Wohnung in einem gänzlich anderen Gebäude. Aber es war eben alles gewesen, wie es gewesen war, als sie vor einem Dreivierteljahr mit Josh zusammengezogen war.
Kennengelernt hatten sie sich, als Josh eine Krankenhauspatientin wegen körperlicher Gewalt vertreten und sie deshalb einige Male die Befunde miteinander durchgesprochen hatten. Es war äußerst
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