Wenn Blau im Schwarz ertrinkt (Teil 1)
Muskel, jeder einzelne Nerv vom Gesicht abwärts schien angespannt.
Schließlich nickte er, ließ den Türrahmen los und trat zurück, sodass sie nur noch auf den schmalen geöffneten Spalt zur Wohnung blickte.
Zitternd hob sie die Hand, umfasste die Tür und öffnete sie – ließ jedoch die Augen geschlossen, bis sie im Inneren stand und die Tür mit dem Rücken in Richtung Raum schloss. Sie spürte, dass Nikolaj nicht weit entfernt von ihr stand. Vielleicht bei den Barhockern am Küchentresen. Ein paar Atemzüge lang ließ sie ihren Blick auf dem Holz der Tür ruhen, ehe sie sich langsam umwandte. Was sich ihr ins Blickfeld schob, nahm ihr mit einem Ruck den Boden unter den Füßen weg.
Mit offenem Mund starrte sie in Richtung Couch, auf der halb zum Boden herabhängend ein Körper lag. Der Körper einer Frau, etwa in ihrem Alter. Nackt. Regungslos. Ihre Haut war von ungesunder Blässe überzogen. Ein Rinnsal Blut lief ihr den Oberschenkel hinab. Das schulterlange brünette Haar klebte ihr feucht an Wangen und Stirn.
Sie trat ein paar unbeholfene Schritte näher an die Frau heran. Alles um sie herum schien sich zu drehen.
Mühsam schob sie den Tisch ein Stück beiseite und ließ sich neben ihr auf dem Boden nieder. Nur ganz abgeschwächt und vereinzelt konnte sie sehen, dass sich ihr Brustkorb hob- und senkte. Die Augen waren weder offen noch geschlossen, sondern flatterten irgendwo dazwischen und ließen ein helles Braun, ähnlich dem ihrer Augen, erkennen.
Gwen fühlte sich vollkommen neben sich stehend, nicht wissend, was dieser Anblick bedeutete, nicht wissend, was sie tun sollte. Fahrig legte sie Zeigefinger und Mittelfinger an die Hauptschlagader des unbedeckten Halses. Der Puls war kaum mehr als ein zaghaftes Kitzeln, das sich bereits zurückzog.
„Was ist … Was hast … Hast du das …?“ Sie brachte kein Wort mehr heraus und Nikolaj ging nicht auf diese gemurmelten ein. Weil er nicht wollte oder konnte, wusste sie nicht.
Die Unfassbarkeit dieses Anblicks vernebelte ihr immer noch jeden vernünftigen Gedanken. Sehr langsam, aber allmählich, bahnte sich die Ärztin in ihr einen Weg zum Vorschein. Sie versuchte die junge Frau vorsichtig in eine stabile Lage zu bewegen. Begann nach Wunden zu suchen, die gemessen an ihrem Zustand vorhanden sein mussten. Doch was sie fand, waren lediglich einige rote Striemen, angedeutete blaue Flecken, die sich erst vollständig zu formen begannen und natürlich das Rinnsal Blut, das ihren Oberschenkel hinab floss. Ihr Zustand war schlimmer, als er hätte sein sollen, als er hätte sein dürfen. Sie konnte nicht erkennen, was die Frau immer kälter und blässer werden ließ, was sie ganz offensichtlich dem Leben entzog und dem Tode näher brachte. Sie war überfordert und diese Hilflosigkeit war fast genauso schlimm, wie die Frage, warum diese Frau hier auf Nicks Couch lag.
„Ich muss … Ich brauche … Ihr Puls … Sie braucht …“, stotterte sie unbeholfen und abgehakt vor sich hin.
„Du kannst nichts mehr für sie tun, Gweny.“
Es waren jene nüchternen und ausdruckslosen Worte gefolgt von ihrem Kosenamen, die sie zu Nikolaj herumschnellen ließen. Er stand die Hände vor der nackten Brust verschränkt an die Küchenzeile gelehnt da, und sah sie ausdruckslos an. Sie schluckte schwer, dann brüllte sie ihn an: „Mach, dass du herkommst und hilf mir! Sie braucht Hilfe! Sie braucht …“
„Was sie braucht, bin auf jeden Fall nicht ich“, presste Nikolaj zwischen ihren panischen Worterguss.
Sie starrte ihn an, überflutet von Wut und Benommenheit. „Willst du sie sterben lassen? Nun hilf mir schon!“
Sie wandte sich wieder der jungen Frau zu und maß abermals ihren Puls. Panisch stellte sie fest, dass er kaum noch wahrnehmbar war – ebenso wie ihre Versuche zu atmen.
Sie begann mit einer Mund zu Mundbeatmung, versuchte zu verhindern, dass die Frau in den bewusstseinslosen Dämmerschlaf glitt, der letztendlich ihren Tod bedeuten würde.
Ein tiefes Seufzen aus Nikolajs Richtung drang an ihr Ohr. Sie würde diese Frau nicht sterben lassen. Sie würde nicht einfach sterben. Nicht hier. Nicht jetzt. Nicht solange sie es verhindern konnte.
Sie flößte dem kalten Körper weiter und weiter Luft aus ihrer eigenen, kaum ausreichend gefüllten Lunge ein. Stemmte sich wieder und wieder mit ihrer letzten Kraft gegen ihren Brustkorb, um den Sauerstoff zu zwingen, sich darin auszubreiten. Tränen rannen ihr die Wangen hinab, ohne dass sie sich dessen
Weitere Kostenlose Bücher