Wenn Blau im Schwarz ertrinkt (Teil 1)
wirklich bewusst war.
Durch den Schleier nahm sie nicht klar wahr, dass Nikolaj auf sie zukam. Erst als sie von zwei Händen gepackt und von der Frau fortgezogen wurde, nahm sie bewusst von ihm Notiz.
Er war neben ihr in die Hocke gegangen und zwang sie ihn anzusehen. „Sie ist tot. Du kannst nichts mehr für sie tun. Es ist nicht deine Schuld. Sie war bereits tot, als du dieses Zimmer betreten hast.“
Aus Tränen ertrunkenen Augen sah sie ihn an, zog hastig ihre Hände aus den Seinigen zurück, ließ sich aus dem stehenden Kniestand hinab auf den Boden gleiten und lehnte halb an die Couch in ihrem Rücken.
Auch Nikolaj ließ sich aus der Hocke in einen Sitz gleiten, die Beine der länge nach ausgestreckt, ihr schräg gegenüber an die Breitseite der Couch gelehnt.
Schweigend und bewegungslos saßen sie da. Ihr Verstand konnte nicht verarbeiten, was hier passiert war. Er konnte – und wollte – einfach nicht verstehen, dass diese Frau tot war. Dass sie tot war, weil … Warum eigentlich? Warum war sie tot? Was hatte Nick mit ihr gemacht? Warum hatte er getan, was auch immer er getan hatte? War das der Spaß, den Merkas gemeint hatte? War dies seine wahre Natur? Die Natur eines Sensaten? War er ein Mörder? Musste er töten? Warum zum Teufel hatte er sie überhaupt hereingelassen? Warum hatte er sie das hier sehen lassen?
Eine feine und überhebliche Stimme antwortete ihr
: „Weil du gesagt hast, dass du reinkommen willst. Du wolltest, dass er dich rein lässt. Du wolltest, dass er dich das hier sehen lässt. Du hast bekommen, was du haben wolltest.“
Sie schloss die Augen, wollte nichts mehr sehen, nichts mehr hören, nichts mehr denken. Sie wollte einfach nur ihre Ruhe. Wollte, dass dieser ganze morbide und abgedrehte Film endete. Es war blanker Hohn, dass derjenige, der immer ihre schützende und geborgene Zuflucht gewesen war, nun derjenige war, der zum Teil dafür verantwortlich war, dass sie derzeit wirklich einen Zufluchtsort benötigte, um sich in Sicherheit zu bringen. Oder war er mehr als nur zum Teil dafür verantwortlich? Sie konnte ihm nicht die gesamte Schuld zusprechen. Sie vermochte es nicht einmal ihm die Hälfte der Schuld zusprechen. Es ging einfach nicht.
Ihre Stimme war heiser und kraftlos, als sie sprach: „Du hast gesagt … es gibt für alles einen Grund. Was ist der Grund für das hier?“ Sie sah nicht in seine Richtung, sondern hielt den Kopf nach vorne gerichtet, die Augen immer noch geschlossen. Nikolaj antwortete nicht sofort. Ihre Frage hing in der Luft, wie eine unheilvolle Gewitterwolke, die gleich strömenden Regen unter sich ausbreiten würde.
Schließlich erhob er müde die Stimme: „Du hast gesagt, du musst die Antwort nicht wissen, weil gestern, gestern ist. Nun ist die Antwort auf deine Frage aber im Hier und Jetzt angekommen. Ich habe versucht – ich habe mir gewünscht – dass sie im Gestern bleibt. Dass es zu nichts wird, was im Heute zwischen uns stehen könnte. Aber wie sagt man so schön: Die Vergangenheit hat mich eingeholt.
Ich habe dir gesagt, was ich bin. Aber ich habe dir nicht gesagt, was genau das bedeutet. Kein einziger Sensat ist identisch mit einem Zweiten. So wie auch kein Mensch einem anderen aufs Auge gleicht. Jeder von ihnen hat einen individuell ausgeprägten Charakter und auch jeder Sensat hat andere Schwerpunkte, die sein Wesen bilden. Ist es bei euch Menschen so, dass eure Erziehung, euer Umfeld, die Gesellschaft und Kultur, der Ort, wo ihr aufwachst und groß werdet, einen Großteil zu eurem Wesen und Charakter beitragen, so ist das bei uns Sensaten auf andere Art und Weise der Fall. Unser Charakter, unser Wesen, entwickelt und formt sich nicht erst im Laufe der Zeit oder der Kindheit in eine bestimmte Richtung, sondern ist bereits voll existent in uns, wenn wir geboren werden. Es ist ein … egoistischer, selbstsüchtiger und tabuloser Grundcharakter, der jedem innewohnt. Von Geburt an.
Bei mir ist es … nochmals ein wenig anders, als bei einem reinen Sensaten. Ich bin zur Hälfte ein Mensch, trage zur Hälfe die menschliche Natur in mir, die sich gleichwohl wie bei euch Menschen im Laufe der Zeit, der Kindheit, entwickelt und ausprägt. Ich habe keine Ahnung, wer meine Mutter ist. Was ich weiß ist lediglich, dass sie ein Mensch ist … oder war …
Geboren wurde ich in der Welt der Sensaten und unter ihnen bin ich auch aufgewachsen. Als ich dreizehn Jahre alt war, machte ich mich daran die Erde zu erkunden. Ich kann dir
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