Wenn Blau im Schwarz ertrinkt (Teil 1)
dein Vater jetzt sagen? Wenn er … diesen Mann … hier auf seiner Beerdigung vorfinden würde?“
Ihre Mutter teilte ordentlich aus. Jedes Wort prallte wie eine Ohrfeige gegen ihre Wange. Es war unfair, und gleichzeitig war es berechtigt und angemessen. Dennoch wusste sie nicht, was sie erwidern sollte und noch weniger, was sie mit dem im Nebenraum befindlichen Mann anfangen sollte. „Ich kümmere mich um ihn. Machst du den Tee fertig?“ Mit diesen Worten ging sie aufrecht an ihrer Mutter vorbei hinüber ins Wohnzimmer.
Man konnte Nikolaj nicht übersehen. Weder ihn selbst, noch die Aufmerksamkeit, die er auf sich zog.
Die vorwiegend älteren Damen und Herren, die auf der Sofalandschaft saßen, und die im Raum verteilten Grüppchen jüngerer Generationen nahmen unverkennbare und ungemütliche Notiz von dem Neuankömmling.
Nikolaj trug einen schwarzen Anzug, der wie angegossen an seinem perfekten Körper lag. Ein weißes Hemd, geschmückt mit einer schwarzen Krawatte, lugte unter dem Jackett hervor. Sein Haar musste vom Regen – oder vom Schnee – überwältigt worden sein, denn es ragte nicht so wild wie sonst in die Höhe, sondern hing ihm feucht in vereinzelten Strähnen ins Gesicht. In sein ebenes, von starken Wangenknochen abgerundetes Gesicht, das so schön und gleichzeitig so fremd war, dass sein Anblick sie schmerzte.
Die Beine leicht zur Grätsche, die Hände in die Taschen seiner Hose vergraben, stand er inmitten der Trauergesellschaft, zog alle Blicke auf sich und sah aus, wie ein Engel. Ein gefallener dunkler Engel, der seine Macht und Präsenz zur Schau stellte, um auch alle anderen um sich herum zu Fall zu bringen.
Seine Augen entdeckten sie. Ein feines, kaum merkliches Blitzen huschte durch die Iris. Blaue Sprenkel.
Ein paar Herzschläge lang ließ jener Blick sie hoffen, machte sie Glauben, ihr Nick würde dort stehen und wäre gekommen, um ihr beizustehen, sie zu halten und zu trösten. Dann war der Zauber verflogen und die Frage, warum er wirklich hier war, nahm den ganzen Raum ein.
Um nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf den ungeladenen Gast zu ziehen als eh schon geschehen, schritt sie so unbekümmert und unauffällig ihr möglich, zu ihm hinüber. Knapp vor ihm stehend machte sie halt, zögerte einen kurzen Augenblick, ehe sie ziemlich ambivalent die Arme um seinen Nacken schlang und ihm ins Ohr flüsterte: „Das ist eine Sache zwischen dir und mir. Bitte lass meine Familie da raus. Bitte lass ihnen – und mir – die Möglichkeit in Frieden von meinem Vater Abschied zu nehmen. Bitte …“ Das letzte Wort hauchte sie dicht und durchdringend an sein Ohr. Sie löste die Hände von seinem Hals und nahm wieder eine aufrechte Position ein.
Ein kurzer Ausdruck von Schmerz huschte über Nikolajs Gesicht. Ganz so, als ob sie ihn gerade geschlagen hätte. Dann wurde es erneut maskenhaft und von einem kühlen und arroganten Grinsen gezeichnet.
„Ich stehe hier vor dir in Anzug und Krawatte. Ich trage einen Pinguinfrack – nur wegen dir. Und du willst mich postwendend vor die Tür setzen? Findest du das nicht ein wenig … taktlos?“
Sie versuchte sich ein unschuldiges Lächeln auf dem Gesicht zu bewahren, denn sie war sich ungemütlich bewusst darüber, dass die Blicke der Umstehenden immer noch auf sie beide gerichtet waren. „Ich weiß es zu schätzen, dass du dich extra wegen mir in Schale geworfen hast, aber … ich würde es dir noch mehr danken, wenn du wieder gehen könntest. Deine Anwesenheit stößt nicht allumfassend auf glückliche Aufnahme. Mein Vater … wäre überdies nicht sonderlich begeistert über deinen Besuch. Wenn du mir also wirklich … etwas Gutes tun willst, solltest du jetzt gehen.“
Er hob den Arm und streichelte ihre Wange. Sie ließ es geschehen.
„Gweny. Haben wir denn jemals etwas darauf gegeben, was dein Vater wollte? Ich meine: Wäre es nach ihm gegangen, hätten wir nicht eine Sekunde zusammen verbracht. Ich glaube nicht, dass wir nun, da er tot ist, anfangen müssen seiner Meinung Gewichtung beizumessen. Ich bin hier und ich habe nicht vor, wieder zu gehen. Deine Entscheidung, was du daraus machst. Genau das ist es doch, was du von mir wolltest, wenn ich mich recht erinnere. Oder? Ich soll dich deine eigenen Entscheidungen treffen lassen. Bitte, hier hast du deine Wahl.“
Einen Moment lang sah er sie noch durchdringend an, dann ließ er von ihr ab und steuerte direkt auf ihre Mutter zu, die mit dem Teetassentablett im Raum
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